Migrationsforscher Dr. Rainer Münz: „Europa ist ein Auswanderungskontinent“

06.11.2018
Gesellschaft

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Der Migrations- und Bevölkerungswissenschafter und das ehem. Mitglied eines Weisenrates der EU-Kommission für Zukunftsfragen Rainer Münz im Gespräch mit Michael Kerbler.

 

Michael Kerbler: Herr Doktor Münz, die Museumsszene Österreichs weist weder ein Auswanderungs- noch ein Einwanderungsmuseum auf. Beides, Auswanderung wie Zuwanderung sind wesentliche, prägende Merkmale. Nicht nur in den 640 Jahren Monarchie, sondern auch in den zurückliegenden einhundert Jahren Geschichte der 1. und der 2. Republik. Warum haben wir weder das eine noch das andere Museum?

Rainer Münz: Die Geschichte der Auswanderung wird in manchen Heimatmuseen erzählt. Und ich erinnere mich ganz prominent an die Salzburger Landesausstellung 1981 in Goldegg: „Protestanten in Salzburg“. Sie erzählte die Geschichte jener rund 20.000 Salzburgerinnen und Salzburger, die im 18. Jahrhundert unter Erzbischof Leopold Anton Firmian wegen ihres Glaubens enteignet und vertrieben wurden.

Man sprach zwar verharmlosend von „Exulanten“, aber die Auswanderung war erzwungen. Rund ein Viertel der betroffenen Salzburger überlebten den entbehrungsreichen Marsch zu Fuß nach Norddeutschland nicht. Später hatte die Migration vor allem wirtschaftliche Gründe. Und zum Beispiel erinnern ein paar im Stadtmuseum von Arnoldstein in Kärnten präsentierte Briefe, Plakate und Objekte an die Kanaltaler Amerikaauswanderer.

Im Burgenland gibt es auch Museen, in denen an Amerika-Auswanderer erinnert wird. Aufgrund der großen Wirtschaftskrise 1929-1935 gab es auch Rückkehrer. In Kittsee gibt es sogar einen kleinen Ortsteil, der Chikago heißt, mit K geschrieben, weil dort in den 1930er Jahren Leute siedelten, die aus Amerika zurückgekommen waren. Es gibt also Erinnerungsspuren, aber man muss nach ihnen suchen.

Bei der Einwanderung sehen die Erinnerungen klarerweise anders aus. So sorgten in der Spätzeit der Habsburger-Monarchie Berichte von Viktor Adler über die elenden Lebensverhältnisse tschechische Ziegelarbeiter am Wienerberg für Diskussionsstoff.

 

Die Einwanderung nach 1945 erfolgte überwiegend aus Ländern, die früher nicht zur Habsburger-Monarchie gehört hatten. Sie sorgte zwar für politische Diskussionen, aber sie spielt im kollektiven Gedächtnis unserer Museen nur selten eine Rolle.

Ich erinnere mich an Ausstellungen über sogenannte „Gastarbeiter“ im Wien Museum und an eine im jüdischen Museum in Hohenems in Vorarlberg. Zugleich hatte diese Arbeitsmigration der 1960ger und 70ger Jahre unsere Gesellschaft sichtbar verändert.

Die Nachfahren dieser Zuwanderinnen und Zuwanderer, also ihre Kinder und Enkel leben heute unter uns. Und einige von ihnen bekleiden inzwischen auch politische Ämter: auf Gemeinde-Ebene, in den Landtagen und im Nationalrat.

 

MK: Die wachsende Ablehnung von Migration in vielen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ist überraschend, wenn man sich die Zu- und Auswanderungsbewegung Europas selbst ansieht. Ist, Herr Dr. Münz, Europa eigentlich ein Zuwanderungs- oder doch eher ein Auswanderungskontinent?

RM: Historisch ist Europa in erster Linie ein Auswanderungskontinent. Im Laufe der letzten 200 Jahre sind etwa 70 Millionen Europäerinnen und Europäer aus Europa nach Übersee ausgewandert. Die kollektive Erinnerung daran ist allerdings am Ausgangsort dieser großen Wanderung und in den Ziel-Ländern völlig unterschiedlich.

In den USA, in Kanada und auch in Argentinien oder in Chile und Australien, wo heute die Mehrzahl der Nachfahren dieser Ausgewanderten leben, wird die Migration positiv gesehen. Dort hört man: Meine Vorfahren waren erfolgreiche Auswanderer. Es war am Anfang vielleicht schwer, aber sie haben es geschafft und die neue Heimat mit aufgebaut.

Aus europäischer Sicht ist die Haltung ambivalenter, weil ein Teil dieser Auswandererinnen und Auswanderer als „Überzählige“ oder als „Unerwünschte“ galten. Für manche hatte es am Bauernhof oder im Gewerbebetrieb der Eltern nicht mehr gereicht. Andere waren aufgrund ihrer Überzeugungen nicht erwünscht. Protestanten in katholischen Gebieten, Katholiken in Protestantischen Gegenden, Juden, Liberale, Sozialdemokraten, Kommunisten, nach 1918 auch Monarchisten.

Die zurückbleibende Mehrheitsbevölkerung war häufig froh, dass solche Personen weg waren. In Europa assoziierten viele Einheimische mit den Migranten seither einen Vorbehalt des Unzuverlässigen, Unerwünschten oder Überflüssigen.

 

MK: Hat es eigentlich auch Rückkehrer aus diesen Staaten gegeben?

RM: Lange Zeit, in Deutschland zum Beispiel bis 1910, wurde Auswanderern die Stadt- und Staatsbürgerschaft entzogen, um sicher zu stellen, dass diese Überzähligen nicht wieder zurückkommen und dem Gemeinwesen „zur Last“ fallen. Heute bekanntester Fall: der Großvater von Donald Trump stammte aus der Pfalz und versuchte Anfang des 20. Jahrhundert aus Amerika in der Pfalz zurückzukehren.

Letztlich musste er mangels Deutscher Staatsbürgerschaft wieder nach Amerika zurück, konnte aber zuvor in Deutschland noch eine Frau aus der alten Heimat heiraten. Am Ende stehen zwei unterschiedliche Perspektiven. In den klassischen Einwanderungsländern in Übersee gelten die Einwanderer von damals heute als Pioniere.

Sie sind fester Bestandteil der historischen Erzählung über die eigene Nation. Wir hingegen halten Migration eher für etwas Unstetes, Unzuverlässiges und Sesshaftigkeit für etwas Positives. In Österreichs Alpen gibt es wunderbare Bauernhöfe. Und es gibt stolze Besitzer, die einem erzählen, der Hof befinde sich seit 150 oder 300 Jahren im Familienbesitz.

Aber wenn man 300 Jahre zurückgeht, hat wahrscheinlich nur einer von 32 Vorfahren dieser Bäuerin oder dieses Bauern auf dem Hof gelebt. Die übrigen 31 müssen irgendwo anders daheim gewesen sein. Was den Familienbesitz betrifft, stimmt natürlich die Kontinuität, aber was die Herkunft betrifft, waren die meisten Vorfahren woanders zuhause.

 

MK: Werfen wir einen Blick auf den Aspekt der Arbeitsmigration. Wenn man die Arbeitsmigration in Europa analysiert und dazu zwei bis drei Jahrhunderte zurückgeht, findet man Beispiele wie Amsterdam gebaut wurde. Um die Sümpfe trocken zu legen wurden Arbeiter aus Norddeutschland geholt.

In Frankreich hat man sich bei der Pflanzung der Weinberge auf spanische Arbeiter verlassen. Die italienischen Steinmetze waren überall in Europa beschäftigt. Die Iren haben in London das Wassernetz gebaut und, und, und…. Diese Arbeitsmigration ist in fast allen europäischen Ländern der Fall gewesen.

Aber auch hier trifft dieses Phänomen zu: diese Leistungen, die nur durch Arbeitsmigranten möglich waren, kommen selbst in wissenschaftlich-historischer Literatur ein bisschen zu kurz.

RM: Man muss unterscheiden. Zum einen hat Arbeitsmigration klarerweise schon in vornationaler Zeit stattgefunden. Aber die Polen, die ins Ruhrgebiet gekommen sind, waren preußische Staatsbürger. Die sind innerhalb eines mehrsprachigen Staates Preußen aus dem katholisch-polnischen in einen katholisch-rheinländischen Teil gekommen.

Unterm Strich trug dies nicht sehr stark zur Identitätsbildung bei, obwohl es auch hier im Ruhrgebiet Spuren der Erinnerung gibt.

Wenn man sich die Fußballclubs im Ruhrgebiet näher anschaut, gibt es Vereine, die Borussia Dortmund oder Borussia Mönchengladbach heißen; und die solchen, die Rot-Weiß-Essen oder Rot-Weiß-Oberhausen heißen.

Rot-weiß sind die polnischen Nationalfarben, obwohl es die polnische Nation als souveränen Staat damals gar nicht gegeben hat, aber viele Ruhr-Polen der ersten Generation sahen sich offenbar als Teil einer größeren „Polonia“.

Andere Bewohner des Ruhrgebiets betonten hingegen ihr Preußentum. Die meisten Fans dieser Fußballclubs haben heute keine Ahnung, dass sich hinter den Namen und Farben einst ein preußisch-deutsch-polnischer Kulturkampf verbarg. Das kollektive Gedächtnis erinnert die Ruhrpolen nicht als erfolgreich integrierte Zuwanderer.

So wie die meisten Österreicherinnen und Österreicher mit tschechischem oder polnischem Migrationshintergrund der Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern keine besondere Beziehung zur jeweiligen Herkunftsregion der Familie haben. Deshalb gibt es auch keine Diaspora-Communities, die aus jener Zeit stammen.

Das einst blühende tschechische Schulwesen in Wien und Niederösterreich mit seinen Komenský-Schulen, existiert heute gerade noch in Form einer Schule.

 

MK: Europa ist also durch die Arbeitsmigration, beginnend in der vornationalen Zeit, dann nach 1918, nicht so spürbar zusammengewachsen, wie man es vielleicht erwartet, wenn man die Geschichte von 300 Jahren Arbeitsmigration innerhalb Europas betrachtet.

RM: In den meisten Fällen blieben die Arbeitsmigranten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dort, wo sie hinzogen, in der Minderheit. Manche kehrten irgendwann wieder heim, andere wanderten weiter, die übrigen wurden relativ spurlos assimiliert. Das trug jedenfalls nicht zur Entstehung eines europäischen Gedankens oder der Internationalisierung des Bewusstseins vor Ort bei.

 

MK: Während des sogenannten Ostblockregimes, also bis 1989, gab es ja eigentlich kaum eine legale Möglichkeit für jemanden aus einem osteuropäischen Land der Arbeit wegen in den Westen zu gehen.

Da ist mit der Wendezeit ab 1989 und dann mit der Erweiterung der europäischen Union für osteuropäische Länder eine neue Art von Arbeitsmigration entstanden. Ließe sich das – weil wir ja aktuell wahrnehmen, dass wieder Grenzen aufgebaut werden in Europa, um Migration zu blockieren – ließe sich die Zeit überhaupt zurückdrehen?

RM: Die Arbeitsmigration von Ost- und Mitteleuropa nach Westeuropa hat zwar zwischen dem Ersten Weltkrieg und den 1990er Jahren kaum existiert. Von Zwangsarbeit während der NS-Zeit und von der Rekrutierung jugoslawischer Arbeitskräfte einmal abgesehen.

Aber zwischen Süd- und  Westeuropa entstand seit den 1950er Jahren eine quantitativ erhebliche Arbeitsmigration. Italienische Gastarbeiter wurden von der Schweiz und Deutschland angeworben, Portugiesen gingen nach Luxemburg und Frankreich. Auch aus der europäischen Peripherie – Griechenland, Türkei, Marokko, Algerien – kam eine große Anzahl von Menschen in den Nordwesten Europas.

Durch den Fall des Eisernen Vorhangs und die Ost-Erweiterung der EU ist die Arbeitsmigration stärker europäisiert worden. Seitdem Menschen vom Baltikum bis nach Bulgarien Zugang zu den Arbeitsmärkten Westeuropas habe, lassen die Staaten der EU weniger Arbeitskräfte aus anderen Teilen der Welt legal einreisen.

Heute werden jedenfalls weder türkische noch marokkanische Arbeitskräfte angeworben. Stattdessen kommen Menschen aus Polen und Ungarn, aus Rumänien und Bulgarien nach Westeuropa. Dass es allerdings ein erhebliches Unbehagen mit solchen Wanderungen gibt, manifestierte sich etwa im Brexit-Votum der britischen Bevölkerung.

 

Zurückgewinnung der Souveränität

Unter dem Schlagwort „Zurückgewinnung der Souveränität“ spielten Kontrolle und Verringerung von Zuwanderung aus anderen europäischen Staaten eine wichtige Rolle zu Gunsten des „Brexit“. Kontrolliert wurden die Außengrenzen Großbritanniens (mit Ausnahme der Grenze zu Irland) die ganze Zeit, weil Großbritannien und Irland nicht Teil des Schengenraums sind.

Aber bis jetzt konnte man als Bürgerin oder Bürger eines EU-Landes trotz Passkontrolle frei einreisen, sich niederlassen und erwerbstätig werden. Der „Brexit“ wird jetzt zeigen, wie ein „Zurückdrehen der Uhr“ aussieht. Innerhalb der „Schengenzone“ haben hingegen viele Menschen das Bedürfnis, nicht unbedingt die Arbeitskräftemigration aus Ungarn oder aus Polen zu reduzieren, sondern den Zuzug von Asylbewerbern zu unterbinden.

Vor allem wollen wir nördlich der Alpen mehrheitlich nicht, dass jemand, der schon in Griechenland oder Italien um Asyl angesucht hat, dann nach Deutschland, Österreich oder Schweden kommt. Deshalb ist die Reisefreiheit im Schengenraum an etlichen Grenzen suspendiert. Die Grenzkontrollen sind ja jetzt sehr sichtbar, ob am Walserberg, in Kufstein/Kiefersfelden und Suben/Passau oder in Spielfeld/Straß und vor dem Karawanken-Tunnel.

Das dient natürlich auch als Signal der jeweiligen Staaten an die Bevölkerung. Wir haben eure Sorge um die Sicherheit verstanden und kümmern uns darum. Aber es wird eigentlich nie darüber diskutiert, dass Deutschland eigentlich nur drei von 87 Grenzübergänge zwischen Österreich und Bayern intensiver kontrolliert. Wer Karten lesen oder sich einen Schlepper leisten kann, kommt an diesen Kontrollen recht mühelos vorbei.

 

MK: Ist diese Vermischung, die da passiert, nämlich die Arbeitsmigration einerseits und die Migration von schutzsuchenden Flüchtlingen zum Beispiel aus Kriegsgebieten, weil sie die Formulierung und Umsetzung einer klar definierten Zuwanderungspolitik verhindert?

Wie kann man diese emotionale Stimmung, die von Antipathie bis blanken Hass reicht, entschärft werden. Damit wir auf der einen Seite den Rechtsanspruch auf Beistand und Hilfe für Flüchtende nicht auf null setzen und auf der anderen Seite auch der ökonomischen Vernunft Platz lassen, um notwendige Arbeitskräfte nach Österreich holen?

RM: Man muss sehen: Skepsis oder Antipathie sind nicht die einzigen Emotionen. Es hat 2015/2016 auch eine großartige Hilfsbereitschaft vieler Menschen in und West- und Mitteleuropa gegeben. Und Österreich hat ja auch lange Zeit immer wieder an sein humanitäres Engagement gegenüber Flüchtlingen während der Ungarnkrise 1956 und beim Ende des Prager Frühlings 1968 erinnert.

Zugleich ist die Skepsis gegenüber Fremden nicht auf Asylsuchende beschränkt. Es hat schon in den 1970er Jahren Plakate in Österreich gegeben, auf denen ein Kind seinen zugewanderten Vater fragte: „I haaß Koleritsch, du haaßt Koleritsch, warum sogn‘s zu dir Tschusch?“ Damals wurde um mehr Empathie gegenüber Gastarbeitern und ihren Familienangehörigen geworben.

 

MK: Aber schon das Wort „Gastarbeiter“ ist doch sehr verräterisch. Diese Menschen betrachtet man als Gäste, von denen wir annehmen, dass sie wieder gehen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.

RM: Das war auch so gedacht. Österreich hat nicht nach Einwanderern gesucht, sondern nach temporären Arbeitskräften. Die Arbeitsmigration der 1960er und 70er Jahre zielte nicht auf die Gewinnung von Neubürgern, sondern auf das Füllen von Lücken auf dem Arbeitsmarkt, die durch das Wirtschaftswunder und den sozialen und bildungsbedingten Aufstieg der einheimischen Bevölkerung entstanden sind.

Weil durch den sozialen Aufstieg der Einheimischen für bestimmte einfache Tätigkeiten im Inland keine einheimischen Arbeitskräfte mehr verfügbar waren, nahmen „Gastarbeiter“ deren Platz ein. Dass ein Teil dieser Arbeitsmigranten dageblieben sind, hatte einerseits mit dem Interesse von Betrieben zu tun, nicht ständig neue Kräfte einschulen zu müssen.

Andererseits gab es schon früher Probleme bei der Durchsetzung von Rückkehr, was ja bis heute ein Thema ist.

Dann folgte ab 1973 bis Ende der 1980er-Jahre eine lange Zeit ohne Anwerbung von Arbeitskräften. Das Thema Arbeitsmigration schien erledigt und nur noch ein Thema für Sozial-Historiker zu sein.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs änderte sich dies beinahe über Nacht. Nach Westeuropa kam nun eine bunte Mischung von Leuten. Manche flohen vor den neuen ethnischen Konflikten in der Heimat, andere suchten vor allem ein besseres Leben im Westen, wollten studieren, manche wollten einfach nur reisen.

Mit dem Beitritt Österreichs zur EU und der Erweiterung der europäischen Union hat sich das Thema zur EU-Freizügigkeit für Arbeitskräfte verschoben. Seit 15 Jahren sind es überwiegend Bürgerinnen und Bürger anderer EU-Staaten, die nach Österreich kommen, um hier zu arbeiten.

Anfangs waren es vor allem Deutsche, seit ein paar Jahren in größerer Zahl auch Personen aus den östlichen Nachbarstaaten – vor allem Menschen aus Polen und Rumänien.

 

MK: Braucht es also für den Arbeitsmarkt auf Grund der EU-Erweiterung eine andere Schwerpunktsetzung in der Zuwanderungspolitik – ich spreche von Österreich – als das vor 1992 der Fall war?

Damals ist das Aufenthaltsgesetz geschaffen worden, das das regeln sollte. Ist jetzt eine andere Form der Zuwanderung – Stichwort: Arbeitskräftebedarf bestimmter Branchen aus Übersee, Amerika, Australien, Asien – angesagt?

RM: Generell deckt Österreich seinen zusätzlichen Bedarf an Arbeitskräften überwiegend aus dem EU-Ausland. Das ist allerdings nicht staatlich organisiert und kontrolliert, sondern eine Migration, die der Arbeitsmarkt von selbst regelt.

In bestimmten Branchen herrscht trotzdem Arbeitskräftemangel. Manche Spezialisten kommen nicht von selbst nach Österreich, andere bekommen als Einwanderer keine Berufszulassung. Weder ein rumänischer polnischer Maurermeister, noch ein Notar oder Architekt könnten, selbst wenn sie Berufspraxis im Herkunftsland nachweisen, in Österreich sofort einen Berufszugang erwirken.

Es gibt regulierte Gewerbe und geschützte Berufe in Österreich. Und in einem Teil der regulierten Gewerbe, zu dem auch das Gastgewerbe gehört, gibt es einen Mangel an Nachwuchs. Oder auch ein geografisches Ungleichgewicht.

Vielleicht gäbe es Nachwuchs oder Unterbeschäftigung in Wien oder im Südburgenland, während Jobs zwischen Salzburg, Tirol und Vorarlberg nicht besetzt werden können. Aber es mangelt an entsprechender Mobilität quer durch Österreich.

 

MK: Wäre das nicht eine Win-win-Situation, so wird ja auch seitens vieler Initiativen und Institutionen, etwa der CARITAS, immer wieder argumentiert, dass Asylwerber, solange sie auf den Asylentscheid warten müssen, in den Arbeitsmarkt integriert werden sollten?

Ist das nur unter Menschenrechts- oder humanitären Gründen plausibel oder hätte die Wirtschaft tatsächlich etwas davon? Oder – um größer zu denken – nicht nur Österreich, sondern langfristig auch EU-Europa? Der österreichische Innenminister hat das als rechtswidrig abgelehnt.

RM: Wir reden bei Stand Oktober 2018 von etwa 380 Asylbewerbern in Lehrberufen. Für den Arbeitsmarkt als Ganzes ist das keine relevante Größe. Der Fachkräftemangel in Österreich ist erheblich größer. Im Individualfall ist klar, dass das für jene Betriebe, die auf Asylbewerber als Lehrlinge und Arbeitskräfte angewiesen sind, durchaus ein existenzielles Thema sein kann.

Aber das strukturelle Problem des gegenwärtigen und zukünftigen Arbeitskräftemangels würde damit nicht gelöst.

Der österreichischen Regierung geht es in dem Punkt um Generalprävention. Sie will nicht, was in Deutschland „Spurwechsel“ genannt wird. Arbeitserlaubnisse für qualifizierte Asylbewerber unabhängig vom Ausgang des Verfahrens. So ein „Spurwechsel“ wird in Österreich inzwischen als zusätzlicher Anreiz für Asylanträge von Personen gesehen, die kaum Aussicht auf Asyl haben.

Eine mögliche Lösung besteht in viel schnelleren Asylverfahren. Es ist meiner Meinung nach keine erstrebenswerte Situation, dass manche Asylverfahren in Österreich so lange dauern, wie eine Lehrlingsausbildung.

 

MK: Zeichnen sich langfristige Migrationstrends in EU-Europa ab, die die EU schon jetzt zu Lenkungsmaßnahmen veranlassen müsste?

RM: Entscheidungen über die legale Zuwanderung von Menschen von außerhalb der EU, über die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen, aber auch Entscheidungen über Asyl sind strikt nationalstaatliche Angelegenheiten. Die europäische Kommission hat da keinerlei Kompetenzen.

Was wir sehen ist Folgendes: In normalen Jahren wandern 1,5 bis 2 Millionen Menschen legal in die EU-Staaten ein. 2015 und 2016 waren wegen des Zustroms an Flüchtlingen klare Ausnahmen. Vor 10 Jahren gab es ungefähr 35 Prozent Arbeitsmigration, 35 Prozent familiär bedingte Migration und 20 Prozent Zuwanderung von Studierenden. Wir sehen, dass die Arbeitsmigration seither sehr stark zurückgegangen ist und sich auch nur auf ganz wenige Staaten konzentriert.

Kurzfristige Arbeitserlaubnisse werden zu etwa 70 Prozent von Polen ausgestellt. Längerfristige Arbeitserlaubnisse erteilen vor allem Großbritannien, Deutschland und Polen. Und das wichtigste Herkunftsland ist seit einigen Jahren die Ukraine. An Bürgerinnen und Bürger dieses Landes wurden seit 2014 etwa 1,4 Millionen kurzfristige Arbeitserlaubnisse erteilt.

In den letzten Jahren ist die Familienwanderung zu einer wesentlichen Form der Migration geworden.

Dabei denkt man zuerst an klassische Familienzusammenführung. Wo ein Familienmitglied schon in Europa arbeitet und den Ehepartner sowie die Kinder nachholt. Das spielt heute vor allem bei anerkannten Flüchtlingen eine Rolle. Der überwiegende Teil von dem, was heute unter Familienwanderung läuft, sind hingegen neu geschlossene Ehen.

In Europa lebende junge Menschen, in der Regel mit EU-Staatsbürgerschaft, heiraten im Ausland lebende Partnerinnen und Partner, die dann in die EU ziehen. Häufig werden diese Ehen innerhalb derselben ethnischen Herkunftsgruppe geschlossen. In der EU lebende Kinder und Enkel von einst zugewanderten Arbeitskräften heiraten Ehepartnerinnen und Ehepartner aus der Herkunftsregion und der Herkunftsgruppe der Großeltern.

Öfters handelt es sich dabei um „vermittelte“ Ehen, bei denen die Partner einander kaum kennen.

Das ist aus Integrations-Gesichtspunkten eine große Herausforderung, weil diese Partnerinnen oder Partner oft ohne Kenntnisse unserer Sprache und Kultur herkommen. Neu zuwandernde Ehefrauen bekommen in der Regel erst einmal Kinder und werden nicht sofort oder für lange Zeit nicht in den Arbeitsmarkt integriert.

Die Kinder sprechen dann eher die Herkunftssprache der neu zugewanderten Mutter als die Sprache des Ziellandes. Und das wiederum trägt dazu bei, dass 25 Prozent der Kinder in Österreichs Schulen zuhause nicht Deutsch als Umgangssprache sprechen.

Da zurzeit nur wenige Arbeitserlaubnisse für einen Zeitraum über 12 Monate erteilt werden, bildet Heirat heute die wichtigste legale Form langfristiger Zuwanderung nach Europa. Und deshalb schaut das Ergebnis auf dem Arbeitsmarkt oder in den Schulen und beim PISA-Test bei uns so ganz anders aus als in Kanada oder in Australien.

 

MK: Früher hat man ja argumentiert, wir brauchen eine Zuwanderung um die Überalterung Österreichs abzufedern. Stichwort Finanzierung des Pensionssystems.

Wie der Zufall es will, bin ich kürzlich mit einigen Staatsangehörigen Luxemburgs zusammengesessen, die mir berichtet haben, dass Luxemburg eine Regelung erlassen hat, die jetzt umgesetzt wird. Dass nämlich Nachfolger von ausgewanderten Luxemburgern, die 1908 Stichtag noch Staatsbürger Luxemburgs waren, die Staatsbürgerschaft beantragen können.

Was zum großen Erstaunen der Luxemburger die Bürokratie zu überfordern beginnt, weil so viele die Staatsbürgerschaft beantragen. Da ist in der Prognose völlig übersehen worden, wie viele Luxemburger nach Amerika ausgewandert sind. Und sehr viele Nachfahren haben jetzt offenbar die Sehnsucht nach Luxemburg zurückzukehren.

RM: Nicht unbedingt. Die haben vielleicht keine Sehnsucht nach Luxemburg, sondern Interesse an einer EU-Staatsbürgerschaft, die man durchaus als Versicherungspolizze sehen kann. Nur wenige, die die Staatsbürgerschaft beantragen, ziehen dann tatsächlich um.

Aber Luxemburg ist hochattraktiv, ist das wohlhabendste Land innerhalb der EU. Große Zahlen an Einbürgerungen mit Hinweis auf die Herkunft gibt es allerdings auch in Italien und Spanien.

 

MK: Wäre das ein Modell für Österreich? Alle Nachfahren von Österreichern und Österreicherinnen, die bis November 1918 die Staatsbürgerschaft besaßen, können um die österreichische Staatsbürgerschaft ansuchen?

RM: Das ist völlig unpraktikabel, weil es die Reichs- und Staatsangehörigkeit im Falle Österreichs, in zwei Formen gab. Es gab die ungarische für Transleithanien und die österreichische für Cisleithanien. Millionen von Menschen, die irgendwo zwischen der Ukraine und Dubrovnik leben, könnten dann die österreichische Staatsbürgerschaft haben.

Ich halte das für keine praktikable Idee. Außerdem würde das dazu führen, dass dann viele Millionen Menschen mit österreichischer Staatsbürgerschaft, die außerhalb Österreichs leben, an den kommenden Nationalratswahlen teilnehmen könnten. Bald wären sie bei Wahlen vielleicht sogar in der Mehrheit.

Aber zurück zur Frage der demographischen Alterung und der Sicherung im Alter. Die Sicherung des Pensionssystems findet im Wesentlichen dadurch statt, dass genug Menschen beschäftigt sind, Güter und Dienstleistungen produzieren sowie Steuern und Sozialbeiträge leisten können.

Kommt es zu einer demographisch bedingten Verringerung der Erwerbsbevölkerung, dann ließe sich diese „Lücke“ sowohl durch Zuwanderung als auch durch eine substantielle Anhebung des Pensionsalters schließen. Beides ist heute in Österreich alles andere als populär.

Aber wir müssten Pensionshöhe und Pensionsantrittsalter nur an die Steigerung der Lebenserwartung koppeln um das System halbwegs im Gleichgewicht zu halten. Und nachdem die Lebenserwartung im Schnitt um zwei bis drei Monate pro Jahr wächst, müsste auch das effektive Pensionsalter jedes Jahr so viele Monate steigen.

Das wären etwa zweieinhalb Jahre pro Jahrzehnt. Im Grunde ist das nicht unfair, weil dann jede Generation im Schnitt gleich lang in Pension bliebe. Zur Zuwanderung von Arbeitskräften gibt es also eine Alternative: Wir müssen im Alter einfach länger berufstätig bleiben.

 

MK: Herr Dr. Münz, ich danke für das Gespräch.

 

Michael-Kerbler

Michael Kerbler

Publizist ORF Chefredakteur

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