Urbane Interventionen: Wie Kunst den öffentlichen Raum verändert

18.12.2024
Kultur

Urbane Interventionen Boden der Tatsachen, Basketball court design
(c)Niko Street Art

Der Begriff „Urbane Interventionen“ umfasst mehr als nur bemalte Hausfassaden und große Wandbilder. Kunst im öffentlichen Raum ist eine kulturelle Kraft. Sie verschönert Straßen, Plätze und Gebäude. Aber sie kann noch viel mehr. Sie erzählt Geschichten, sagt, was sie politisch will und bringt Menschen zusammen.

In den letzten 25 Jahren hat sich viel verändert. Von rebellischen Graffitis, die als Akt der Aneignung urbaner Räume begannen, bis zu digitalen Botschaften, die heute über Bildschirme und soziale Medien vermittelt werden. Heute konkurrieren digitale Plattformen um die Aufmerksam mit dem physischen Raum. Die Kunstform ‚urban interventions‘ verändert sich, aber die Kunst bleibt ein Spiegel unserer Gesellschaft.

In einem Interview mit der Künstlerin Chinagirl Tile, dem Künstler Manuel Skirl und der Street Art Expertin Ricarda Lassy von Muralia zeigt sich, wie diese Interventionen den öffentlichen Raum verändert haben und wie sie Städte, Menschen und Gemeinschaften beeinflussen.

Urbane Interventionen crop nb (c) Chinagirl Tile
Die Kunstform ‚urban interventions‘ verändert sich, aber die Kunst bleibt ein Spiegel unserer Gesellschaft.(c) Chinagirl Tile

Die Stadt als Bühne: Was urbane Kunst bewirken kann

Die Stadt ist weit mehr als ein Ort, an dem wir leben und arbeiten. Sie ist ein Raum, der von ihren Bewohnerinnen und Bewohnern gestaltet und geprägt wird. Urbane Kunst nimmt diesen Raum in Anspruch und macht ihn zu einer Bühne für Ideen, Botschaften und Interaktion. Für Chinagirl Tile ist die Stadt ein lebendiges Medium, das sie bewusst auswählt, bevor sie ihre Werke erschafft. „Ich lerne die Orte vorher kennen und mache spezifische Arbeiten dafür. Das ist das, was mir richtig Spaß macht.“

Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum geht über reine Ästhetik hinaus. Sie transformiert Stadtteile, bringt Menschen zusammen und regt zum Nachdenken an. „Jede kleine Arbeit, die du an die Wand malst, verändert die Umgebung und die Menschen, die es sehen“, erklärt Chinagirl Tile. Dabei entstehen Dialoge, die oft über das Sichtbare hinausgehen. Die Stadt wird zu einem Ort der Begegnung zwischen der Botschaft, die platziert wird und der Gemeinschaft um sie herum.

Ricarda Lassy beschreibt die besondere Wirkung urbaner Interventionen wie Murals auf Städte und Menschen:

„Street Art ermöglicht es, Kunst auf niederschwellige Weise im Alltag zu erleben – ohne den Druck, ein Vorwissen mitzubringen, wie es in Museen oft der Fall ist. Sie lädt Betrachter:innen dazu ein, Kunst für sich selbst zu interpretieren oder einfach zu genießen, ohne dem Gesehenen eine bestimmte Bedeutung zuweisen zu müssen. Besonders großflächige Kunstwerke (zB Murals) haben eine beeindruckende Wirkung: Sie versetzen uns ins Staunen und hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Ähnlich wie einst imposante Bauwerke erzeugen sie allein durch ihre Größe eine faszinierende Präsenz, die Menschen unmittelbar berührt.“

Von Grafitti zum Mural: Die Entwicklung urbaner Kunstformen

Graffiti ist von jeher eine Ausdrucksform, die von Jugendlichen als Zeichen des Widerstands betrieben wurde. Die Straße ist ihr Raum und Spraydosen ihr Werkzeug. Es geht um Rebellion, um die Sichtbarkeit ihrer Sorgen und Meinungen und darum, dass Künstler:innen Flächen gestalteten, die oft übersehen oder vernachlässigt werden.

Heute hat sich die Szene im Vergleich zu den 90/00er Jahren weiterentwickelt. Urban Art, insbesondere großflächige Murals, werden zunehmend als Teil der Stadtgestaltung wahrgenommen. Künstler wie Manuel Skirl verschönern Fassaden und Plätze, oft sogar im Auftrag von Städten oder privaten Eigentümern.

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Künstler wie Manuel Skirl verschönern Fassaden und Plätze, oft sogar im Auftrag von Städten oder privaten Eigentümern (c) Manuel Skirl

Gab es früher mehr urbane Interventionen als heute?

In den 2000er- und frühen 2010er-Jahren waren urbane Interventionen ein zentrales Instrument, um Freiräume in Städten kreativ zu nutzen und gesellschaftliche Themen sichtbar zu machen. Diese Aktionen zeichneten sich oft durch einen rebellischen, spontanen und subversiven Charakter aus.

Sie nutzten den öffentlichen Raum in einer Zeit, in der Regulierungen weniger strikt und die Flächen noch nicht so stark kommerzialisiert waren. Mit der zunehmenden Kommerzialisierung des öffentlichen Raums wurden viele dieser Flächen jedoch von Unternehmen oder institutionellen Akteuren beansprucht.

Zugleich führten strengere bürokratische Vorgaben dazu, dass künstlerische Projekte im urbanen Raum heute oft aufwendiger zu genehmigen und umzusetzen sind. Auch die Institutionalisierung durch kuratierte Festivals hat den unabhängigen, spontanen Charakter urbaner Kunst verändert.

Die Rolle der Digitalisierung & gesellschaftlicher Wandel

Ein weiterer Grund für die geringere Sichtbarkeit urbaner Interventionen ist der technologische Wandel. Künstler:innen experimentieren zunehmend mit digitalen Medien wie Augmented Reality oder im digitalen öffentlichen Raum auf Social Media, wodurch physische Interventionen in den Hintergrund treten.

Gleichzeitig haben die COVID-19-Pandemie und der Fokus auf funktionale Stadtgestaltung die Dynamik im öffentlichen Raum verändert. Während früher die soziale Interaktion im Mittelpunkt stand, hat sich die Aufmerksamkeit auf digitale Räume merkbar verschoben. Weniger Förderungen und Ressourcen für freie Kunstprojekte haben die Entwicklung zusätzlich gehemmt. Dennoch bieten digitale Technologien und hybride Ansätze Potenzial, urbane Interventionen neu zu denken und sie an die aktuellen Bedürfnisse einer sich wandelnden Gesellschaft anzupassen.

Die Street Art Expertin Ricarda Lassy dazu: „Ich würde sagen, dass sich der anfängliche Hype und die Euphorie einfach gelegt haben. Große Namen wie Banksy oder Shepard Fairey haben Street Art in den Mainstream gebracht und einen breiten Hype ausgelöst. Urbane Interventionen gab es aber bereits davor, jedoch in der gesellschaftlich eher weniger akzeptierten Form des ‚Graffiti‘.“

Für Lassy hat die wachsende Zahl an Festivals und Künstler:innen zu mehr Akzeptanz geführt, aber auch zur Kommerzialisierung. „Die Kunst hat möglicherweise etwas von ihrem spannenden, oft illegalen Charakter verloren.“ Dennoch bleibt ihre Kraft unbestritten: Street Art schafft es, eine Stadt lebendiger, spielerischer und interaktiver zu gestalten. Wer sich darauf einlässt, kann seine Umgebung auf völlig neue Weise entdecken und sich dadurch stärker mit seiner Umgebung identifizieren.“

Street Art & Gentrifizierung: Ein zweischneidiges Schwert

Street Art hat eine paradoxe Wirkung auf Stadtviertel. Sie belebt heruntergekommene Gegenden, zieht Aufmerksamkeit auf sich und macht Orte attraktiv. Doch dieser Erfolg zieht oft eine Welle der Gentrifizierung nach sich. Künstlerinnen und Künstler, die anfangs als Pioniere in vernachlässigte Viertel ziehen, werden nicht selten selbst Opfer des Erfolgs.

„Street Art ist der erste Stepping Stone für Gentrification“, betont Chinagirl Tile. Künstler werten gemeinsam mit den Bewohnern die Umgebung auf, schaffen ein neues Flair, das hip und anziehend wirkt. Doch sobald Investoren auf den Plan treten, steigen die Mieten, und die ursprüngliche Gemeinschaft wird verdrängt.

Lassy sieht in urbanen Interventionen jedoch auch ein enormes Potenzial für Gemeinschaften: „Unsere Erfahrung zeigt, dass urbane Interventionen wie Murals die Identifikation spürbar stärken. Die Bewohner:innen von Städten beginnen, sich mehr mit ihrer Umgebung zu verbinden, achten stärker auf den gemeinsamen Raum und übernehmen Verantwortung dafür.“

Sie nennt ein beeindruckendes Beispiel: „An einem unserer Standorte führte ein Mural dazu, dass eine Nachbarschaftsinitiative die Umgestaltung des angrenzenden Parks in Angriff nahm.“

Freiräume schaffen: Warum Städte Platz für Jugendliche brauchen

Ein wichtiger Aspekt urbaner Kunst ist ihre soziale Funktion. Sie bietet jungen Menschen die Möglichkeit, sich auszudrücken und den öffentlichen Raum aktiv mitzugestalten. Doch dafür braucht es Freiräume – Plätze, an denen Jugendliche ohne Angst vor Strafen experimentieren können.

„Menschen brauchen Raum und Freiraum. Gerade die junge Generation, die durch Corona ohnehin viel verloren hat, braucht Orte, an denen sie kreativ sein kann“, erklärt Chinagirl Tile. In Wien gibt es mit der„Wiener Wand“ bereits ein erfolgreiches Modell. Wände werden für alle freigegeben, ohne Kuration oder Einschränkung.

Urbane Interventionen Boden der Tatsachen, Basketball court design
Ein wichtiger Aspekt urbaner Kunst ist ihre soziale Funktion (c)Niko Street Art

Zukunftsvision: Der öffentliche Raum & sein Look and Feel

Der öffentliche Raum der Zukunft wird eine spannende Mischung aus digitalen und analogen Elementen sein. Während Smart Cities mit datengetriebenen Technologien und interaktiven Interfaces experimentieren, könnte sich gleichzeitig eine Gegenbewegung entwickeln, die den Wert des Physischen und Haptischen neu entdeckt.

Für Künstler:innen wie Manuel Skirl steht fest, dass die kommende Generation eine andere Beziehung zu diesen Räumen aufbauen wird: „Ich glaube an eine anti-digitale Bewegung. Irgendwann wird es wieder cool, draußen zu sein, zu gestalten und gemeinsam zu erleben.“ Diese Rückkehr zur Greifbarkeit könnte den öffentlichen Raum in den kommenden Jahrzehnten maßgeblich prägen und ihn zu einem Ort der Interaktion und kreativen Selbstverwirklichung machen.

Gleichzeitig wird der Fokus auf die Ästhetik und das Wohlbefinden der Menschen immer wichtiger. Lassy betont, dass urbane Interventionen in der Lage sind, Städte nicht nur visuell aufzuwerten, sondern auch die Lebensqualität zu steigern: „Ohne die Architektur eines Ortes verändern zu müssen, vermögen es urbane Interventionen, eine positive Atmosphäre zu schaffen.“

Ihre transformative Kraft wird auch in 30 Jahren relevant bleiben, da sie flexibel und adaptiv auf gesellschaftliche Bedürfnisse eingehen können. Beispiele aus der Vergangenheit und Gegenwart zeigen, dass diese Kunstform nicht nur zeitlos ist, sondern auch eine wichtige Rolle in der Gestaltung lebenswerter Städte spielt.

Ein Appell für künstlerischen Ausdruck im Raum

Es braucht den entschlossenen Willen, die Bevölkerung aktiv in diese kreative Ausdrucksform einzubinden. Urbane Kunst kann nur dann ihr volles Potenzial entfalten, wenn ausreichend Flächen bereitgestellt und die notwendigen Genehmigungen erteilt werden, damit Menschen ihre Meinungen und Perspektiven künstlerisch zum Ausdruck bringen können.

Besonders junge Menschen, die häufig keinen geeigneten Raum für ihre Kreativität finden, verlangen nach solchen Möglichkeiten. Ihnen diese Freiräume zu bieten, ist nicht nur ein Zeichen von Offenheit und Innovationskraft, sondern auch ein wichtiger Schritt, um den öffentlichen Raum lebendig und vielfältig zu gestalten.

urbane Interventionen Sujetbild
Urbane Kunst kann nur dann ihr volles Potenzial entfalten, wenn ausreichend Flächen bereitgestellt und die notwendigen Genehmigungen erteilt werden (c) Peter Taschler

Urbane Inverventionen: Kunst, die den Herzschlag der Stadt stimuliert

Urbane Kunst ist keine Dekoration. Sie ist ein Spiegel unserer Zeit, ein Mittel der Aneignung und ein Werkzeug der Transformation. Sie schafft Begegnungsräume, stärkt die Identifikation mit dem Lebensraum und macht Städte lebendiger.

Wie bereits in diesem Beitrag umfassend herausgearbeitet, drücken urbane Interventionen aus, wie öffentliche Räume ticken. Solange es Städte gibt, wird es Menschen geben, die diese gestalten wollen. Und die Kunst wird immer ein Teil dieses Prozesses sein.

 

 

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Daniela Krautsack

Daniela Krautsack ist eine österreichische Trendforscherin, Mediastrategin, Autorin und Innovationsdesignerin, die sich durch ihre vielfältige Tätigkeit in der Entwicklung von Marken, der Schärfung von Unternehmensstrategien und der Erforschung von Gesellschafts-, Technologie und Kulturtrends auszeichnet. Sie ist lebenslange Weltreisende und lässt sich von Zukunftsdenkern und den verschiedenen Kulturen inspirieren. Daniela Krautsack ist Gründerin einer Agentur für interdisziplinäre Kommunikation namens ‚Cows in Jackets‘ und der Unternehmensberatung ‚Cities Next‘, die sich auf die Erforschung und Gestaltung von Zukunfts- und Innovationsdesigns im urbanen Raum und kommunikativer Prozesse konzentriert.

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