Partizipative Stadtentwicklung

28.09.2016
Veranstaltungsberichte

„Partizipative Stadtentwicklung ist eine große Chance, richtiges Erwartungsmanagement dafür erfolgskritisch: ist das Ziel Information, Konsultation oder Kooperation? Falsche Erwartungen auf der einen oder Scheinbeteiligung auf der anderen Seite führt zu Frustration und Vertrauensverlust. Wer es richtig macht, kann auf die Weisheit der Vielen zählen.“ meint Mag. Josef Lentsch MPA, ehemaliger internationaler Manager, Unternehmer, Harvard University Absolvent und jetzt Direktor von NEOS Lab, wo er mit Partizipation experimentiert. Die Weisheit der Vielen – ein passendes Entrée in diesem Newsletter, der sich immer populärer werdender Prozesse der Stadtentwicklung in Kooperation mit Menschen widmet, die mitgestalten wollen.

Im Zuge wachsender Städte und der damit verbundenen infrastrukturellen Herausforderungen, wie Wohnungskrisen und der verschärften Flüchtlingssituation beschäftigte sich das diesjährige Urbanize-Festival mit folgenden Fragen: „Wie lässt sich die Imaginationskraft des Alltagslebens mit Planung und Stadtentwicklung verknüpfen? Wie lässt sich Beteiligung beschleunigen? Wie kann das emanzipatorische Potenzial kleinteiliger Selbstorganisation für Projekte in größerem Maßstab gedacht werden? Wie lässt sich Raum planen, der Platz lässt für Ungeplantes? Wie wird aus der Alternative für Wenige ein Angebot für Viele?

Die Organisationen luden zu Vorträgen und Diskussionen, Workshops und Case Studies, künstlerischen Interventionen, Filmen und Stadterkundungen ein, um von den zahlreichen ExpertInnen über Strategien und Modelle einer selbstbestimmten Ko-Produktion der Stadt Auskunft zu erhalten.

Der Konferenztitel »Housing the Many – Stadt der Vielen« rückte die Skalierbarkeit der vielfältigen Erfahrungen aus Projekten und Initiativen urbaner Selbstorganisation in den Fokus und beleuc

„Das Festival lädt unter anderem VertreterInnen von lokalen und internationalen Bottom-Up Initiativen und alternativen urbanen Projekten ein, die sich in Europa bereits seit Jahren erfolgreich in der Praxis bewähren, damit diese Modelle stärker in die offizielle Stadtplanung und Stadtentwicklungspolitik einfließen können. Es geht darum, das ‚Wissen der Vielen‘ fruchtbar zu machen und die engagierten BürgerInnen, die mitgestalten wollen, in diese Prozesse besser einzubinden.“ erklärt Helga Kusolitsch, urbanize! Pressesprecherin und Architekturvermittlerin und nennt als Beispiel das erfolgreiche Projekt ‚Granby four streets.‘ Erfolgreich deshalb, weil das Renovierungsprojekt in Liverpool nachhaltig positive Effekte für die Nachbarschaft erzielte und nicht nur temporäre Begeisterung hervorrief, wie das oft bei Projekten der Fall ist, die top-down, also von der Stadt selber in Auftrag gegeben werden.

PLANBUDE

Für das Projekt „Granby Four Streets“ im Arbeiter- und Elendsviertel Toxteth in Liverpool, das gemeinsam mit dessen Bewohnern renoviert wurde, hat die Architektengruppe „Assemble“ den renommierten britischen Turner-Preis für zeitgenössische Kunst und damit die wichtigste Kunstauszeichnung des Vereinigten Königreiches verliehen bekommen. Bei dem Projekt ging es um den Erhalt von Reihenhäusern eines Arbeiterviertels in Liverpool.Granby

Copyright: Liverpool Echo

 

Der Turner-Preis, der nach dem Landschaftsmaler J. M. W. Turner benannt ist, wird seit 1984 vom Tate-Museum in London an Künstlerinnen und Künstler unter 50 Jahren vergeben, die aus Großbritannien stammen oder dort arbeiten. Er ging bereits an prominente Künstler wie Antony Gormley, Gilbert & George und Anish Kapoor.

Zusammen mit den Bewohnern plante Assemble die Erneuerung des verfallenden Viertels Granby in Liverpool, dessen Sorgen bei Politikern und Behörden lange Zeit kein Gehör fanden. 1981 hatten Unruhen die Gegend erschüttert, Menschen protestierten gegen rassistisch motivierte Polizeigewalt. Seither gelang es der lokalen Verwaltung nicht, den stetigen Verfall aufzuhalten. Granby wurde zur No-go-Area. Bis Assemble sich der Herausforderung annahm. Anders als bisherige Stadtplaner sprachen die Jungarchitekten nicht zuerst mit potenziellen Geldgebern, sie setzten sich mit den Anwohnern zusammen und fragten sie: Seit wann wohnt ihr hier? Was macht diesen Stadtteil für euch aus? Wie würdet ihr in Eurem Viertel gern leben? „Aus den Gesprächen mit den Menschen vor Ort erfuhren wir mehr über die Infrastruktur, die Geschichte, den Charakter des Viertels, als uns die Behörden je hätten sagen können“, erklärt eine Sprecherin von Assemble.

Granby4streets

Copyright: Granby4streetsclt

Nonkonformismus und Diversität gelten als Dogma von Assemble. Gemeinsam arbeiten sie an der Zukunft des Wohnens. Assemble setzt sich mit sozialen Wohnungsfragen auseinander: ‚Wie gelingt in wirtschaftlich schwachen Gegenden kostengünstiges Bauen? Wodurch kann eine Nachbarschaft zusammenwachsen? Wie kann man mit einfachsten Mitteln modern wohnen?’

Im Berliner Stadtteil Pankow hatten Senioren 2012 ein Haus besetzt, das ihnen bislang als Freizeit- und Begegnungsstätte gedient hatte, dann aber verkauft werden sollte. Sie demonstrierten gegen die Räumung, kämpften gegen Verdrängung und die zunehmende Gentrifizierung ihres Stadtteils. Im April 2015 stellte Assemble den Bewohnern einen Entwurf für das Wohnen im Alter inklusive Finanzierungskonzept vor: Ein Bauherr erstellte einen mehrgeschossigen Rohbau mit 20 Wohneinheiten und einer Gemeinschaftsfläche über das gesamte Erdgeschoss.

Oder der Umbau einer leerstehenden Tankstelle in Clerkenwell, die sich an einer der meistbefahrenen Straßen Londons befand. Diese transformierten die Jungarchitekten mit rund 200 Freunden, Freiwilligen und Passanten in ein schillerndes Kino. Sie nannte es: „Cineroleum“.

The Cinera

 

Copyright: Assemble

Die Bekanntgabe des Turner-Preis Gewinners sorgte in der Kunstwelt für viel Wirbel und Empörung. Viele Galeristen, Künstler und Kritiker waren sich einig, dass es keine Kunst sei, was diese Architekten machten. Erstmals sollte der Turner-Preis nämlich nicht an einen klassischen Künstler gehen, sondern an ein Architekturbüro. Die Architektengruppe Assemble besteht jedoch nicht nur aus Architekten. Auch Historiker, Designer, Künstler  und Philosophen gehören zu dem Ensemble. Und das war die Botschaft der Jury. Es geht heute nicht mehr um die klassische Beauftragung eines Repräsentanten der Zunft X, sondern um die Vielfältigkeit einer Expertengruppe, die an der Lösung eines Problems arbeitet. Je unterschiedlicher die berufliche Expertise, desto innovativer das Resultat. Das Londoner Kollektiv bezieht sich in ihren Entwürfen auf das, was schon da ist. Ist etwa in einem Haus während des Leerstands ein Teil des Plafonds eingefallen, lässt Assemble diese Lücke bestehen, um großzügigeren Wohnraum zu schaffen.

Apropos ‚ist eh alles da‘: Auch in der Ankündigung eines Workshops, zu dem kürzlich in St. Valentin eingeladen wurde, hieß es: „Wir versuchen mit dem Workshop „Stadt Stücke“ den „Ist – Zustand“ der Stadt St. Valentin zu erkennen und alles, was schon da ist von einer anderen Seite zu sehen.

DI Martin Mackowitz, Prozessbegleiter bei der Entwicklung städtischer Interventionen (http://ma-ma.io/) erklärt, was damit gemeint ist: „Die Stadt ist ein Labor, es wird geträumt, hingeschaut und umgesetzt. Wir müssen schon mal unsere Komfortzone verlassen, um Potentiale von allem, was uns umgibt, sichtbar zu machen und neue Blickwinkel zuzulassen. Unsere Arbeit bewegt sich im Feld von Architektur, Kunst & Kultur und temporären Installationen. Wir sehen die Stadt als performatives Gefüge, das den BewohnerInnen erlaubt, als Akteure tätig zu werden und dadurch die Lebensqualität zu steigern.“

Mackowitz und sein Team laden die Teilnehmer in eine Art Theaterstück ein, das von den Teilnehmern selbst inszeniert und mit Hilfe der Requisite ‚Architektur‘ in ein ‚neues Stück‘ Stadt geschrieben wird. „Kommen“, ist der Name des ersten Aktes. Die Stadt Stücke werden eröffnet, indem BewohnerInnen der Stadt einen Perspektivenwechsel vornehmen, um Potentiale des ihnen so vertrauten, ja oft ‚zu‘ vertrauten Ortes neu zu entdecken und den Grundstein für die Veränderung dieser Orte zu legen. „Verweilen“, lautet der zweite Akt. Hier kommt der sogenannte Wanderkiosk ins Spiel.Wanderkiosk

Copyright: http://ma-ma.io/

Der Wanderkiosk steht repräsentativ für verschiedene Möglichkeitsformen temporärer Architektur. Er verweilt in diesem zweiten Akt an den Orten der Stadt, deren Potential im ersten Akt, aufgedeckt wurde. Der Wanderkiosk wird als Zeichen für die ‚Bewegung‘ in der Stadt eingesetzt, bildet einen Ort des Zusammenkommens und zeigt auf, was die Stadt zu bieten hat. Der dritte und letzte Akt heißt „Bleiben“. Die Erkenntnisse und Erfahrungen aus den Stadt-Stücken sowie dem Wanderkiosk werden komprimiert und mit einer permanenten Intervention erlebbar gemacht, oder einem Ort, der die Veränderung in der Stadt initiiert. Mackowitz: „Wir verschaffen den Träumen und Wünschen der BewohnerInnen Gehör. Ob es eine Tanzschule im öffentlichen Raum wird, die Gestaltung von Stadtwohnzimmern oder der Umbau eines Gewächshauses in einen Möglichkeitenraum – Storytelling in Form eines Theaterstücks hilft den Teilnehmern, eine Vision zu artikulieren.“

Und wozu das alles?

Es geht um die Lebensqualität in Städten und Dörfern, ihre Identitätsfindung, das Entdecken von Orten, die man getrost als Landmark bezeichnen kann. Oder als Punkte der Zusammenkunft, die Austausch von Wissen, Gefühlen und Ideen ermöglichen und wenn die Kreation, Gestaltung und Umsetzung das Herz und die Seele eines Ortes wiederspiegeln, sogar zum Wahrzeichen werden.

 Das bestätigt auch Giacomo Zaganelli, ein italienischer Künstler, dessen Installationen stets eine Beziehung zwischen Kunst, Architektur und Raum herstellen. Er erarbeitet mit den Anwohnern oft wochenlang, was entweder temporär oder auch als langfristige Kunstform die Identität eines Ortes mitbestimmt und hat, so nennt er es in unserem Online-Interview, „stets positive Erfahrung durch die große Begeisterung und Anteilnahme der BewohnerInnen“ gemacht. Zaganellis Raum-Installationen finden sich in vielen Ländern Europas und Asiens; derzeit befindet sich Zaganelli in einer ‚artist residency‘ in Hualien, Taiwan und beschäftigt sich mit dem Schutz des historischen Gedächtnisses und der verlassenen Räume der Stadt Hualien, ein Problem, das auch österreichische Dörfer und Kleinstädte durch die Abwanderung jüngerer Generationen in Großstädte belastet.

copyright Giacomo Zaganelli_Florenz Intervention 2008
copyright Giacomo Zaganelli_Florenz Intervention 2008

Zaganelli: „Ich würde so weit gehen zu sagen, dass Stadtentwicklung ohne die Einbindung der Stadt-BewohnerInnen kaum Raum für Lebensqualität zulässt. Dann repräsentiert sie weder die Stimme derer, die den Raum tagtäglich nutzen, sie lässt auch nicht zu, dass man ein Teil des Ortes wird. Ich habe vor einigen Jahren ein partizipatives Projekt in Florenz (https://vimeo.com/86993412) organisiert, nachdem der Stadtrat entschlossen hatte, in einem alten Teil der Stadt alte Häuser abzureißen, um Platz für eine Tiefgarage zu machen. Der Platz über der Garage wurde einfach mit Beton planiert – kein einziger Baum, keine Bank, ein ‚Nicht-Platz‘  – so würde ich ihn nennen. Also habe ich mich mit den Bewohnern zusammengetan und wir haben den Platz in einer einzigen Nacht begrünt. Mit 2.000 m2 Rollrasen und 40 Helfern. In den darauffolgenden vier Wochen wurde dieser Ort von Tausenden Menschen zum Leben erweckt. Die Leute saßen tagsüber im Gras, suchten Entspannung, unterhielten sich, spielten und kamen abends zu Veranstaltungen, die von den Anrainern organisiert wurden. Kreative, ob Künstler, Designer oder Architekten, helfen heutzutage mit, Visionen und Ideen für den öffentlichen Raum so umzusetzen, dass sich Menschen ihrer Rolle als BürgerInnen bewusst werden.“

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Daniela Krautsack

Daniela Krautsack ist eine österreichische Trendforscherin, Mediastrategin, Autorin und Innovationsdesignerin, die sich durch ihre vielfältige Tätigkeit in der Entwicklung von Marken, der Schärfung von Unternehmensstrategien und der Erforschung von Gesellschafts-, Technologie und Kulturtrends auszeichnet. Sie ist lebenslange Weltreisende und lässt sich von Zukunftsdenkern und den verschiedenen Kulturen inspirieren. Daniela Krautsack ist Gründerin einer Agentur für interdisziplinäre Kommunikation namens ‚Cows in Jackets‘ und der Unternehmensberatung ‚Cities Next‘, die sich auf die Erforschung und Gestaltung von Zukunfts- und Innovationsdesigns im urbanen Raum und kommunikativer Prozesse konzentriert.

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