Leitbilder – Wohlfühlmanifeste für unsere Städte

01.09.2016
Veranstaltungsberichte

Ein Beitrag von Daniela Krautsack, MBA, Urban Branding Expertin und Trendforscherin (Wien):

Warum sind Leitbilder wichtig für uns? Dazu gibt es eine recht einfache Antwort. Wir wollen uns wohlfühlen an dem Ort, der unser Zuhause ist, unsere Arbeitsstätte birgt und an dem wir unsere Freizeit verbringen. Leitbilder und Leitsätze, die Maßnahmen für ein Regelwerk definieren, das uns Möglichkeiten zur Entfaltung bietet und eine sichere, nachhaltig gestaltete Umgebung schafft, ebnen den Weg dorthin. Wohin eigentlich?

Wie wird unsere Stadt 2030 aussehen, wie 2050? Für jemanden, der in den Siebziger Jahren geboren wurde, wirkte dieses Datum stets in ungreifbarer Ferne. Zumindest Menschen mittleren Alters ahnen, dass die nächsten 14 Jahre wie im Flug vergehen werden und immerhin will man 2030 die erste Wohnsiedlung auf dem Mars bauen.

Dass sich Städte, erst mal auf unserem Planeten verändern, sehen wir, ja spüren wir. Globale Einflüsse vermengen sich mit lokalem Handeln, allgemeine gesellschaftliche Trends, wie z.B. die demografische Entwicklung einer Stadt, treffen auf spezielle örtliche Verhältnisse. Wir wohnen und arbeiten, lernen, versorgen und erholen uns in einer Stadt, und durch alles, was wir mit vielfältigen und auch unterschiedlichen Interessen und Perspektiven tun, gestalten wir täglich unsere Stadt. Wir wollen „gemeinsam“ die bestmöglichen Bedingungen schaffen, damit sich Menschen in ihrer Stadt wohlfühlen. Das Leitbild bietet dafür die Grundorientierung und skizziert sozusagen den „Horizont“ der angestrebten möglichen Entwicklung.

„Für ein Leitbild braucht man ein Problem.“, meinte Wolf Lotter, österreichischer Journalist und Autor, in einem brandeins Interview zum Thema Leitbilder schon 2004, „und den Mut, es zu erkennen. Den Willen, es zu lösen. Die Verpflichtung, es zu erfüllen. Das leitet zu einem Ziel, einer Vision, die so klar ist, dass man sie verstehen kann – bildhaft.“ So sieht das auch Mag. Claudia Brandstätter, Geschäftsfüherin bmm, Brandstätter Matuschkowitz Marketing GmbH, eine Expertin für Leitbildprozesse. „Die Vision stellt den Polarstern für eine Stadt oder eine Region dar, einen Richtungsweiser, der bedingt, dass man sich klar ist, wo die Stärke der Stadt liegt. Aus einer Vision wird eine eindeutige Positionierung abgeleitet. Und daraus entsteht das Leitbild. Folglich eine Marke. Und meiner Meinung nach machen starke Leitbilder eine tolle Stadt zu einer starken Marke.“

Die Entwicklung von Leitbildern war in den Neunzigern und auch noch einige Jahre danach voll im Trend. Doch plötzlich sprachen Experten von ‚Megatrends’ und ihre Auswirkungen auf Städte, die sich folglich mit Themen wie Digitalisierung, wachsenden Städten und einer neuen Leitwährung des 21. Jahrhunderts namens ‚sharing economy’ konfrontiert sahen. Die Leitbild-Bedeutung litt unter dieser Entwicklung. Das wachsende Verständnis dafür, dass eine Stadt eine eigenständige Positionierung und eine Identität braucht und zur Marke werden muss, um im ökonomischen Wettkampf bestehen zu können, motiviert nun dazu, Leitbilder zu überarbeiten oder gar ganz neu zu definieren.

Das DenkwerkStadt – Symposium, das Ende September in Nußdorf am Attersee stattfindet, wird auf die Bedeutung von Leitbildern hinweisen und die häufig geschilderte Problematik erörtern. Dass es oft kein Miteinander in der Entwicklung eines Stadt-Leitbildes gibt, sondern dass viele Abteilungen ihr eigenes Leitbild machen und durch mangelnde Abstimmung und Kommunikation kein gemeinsamer Nenner gefunden wird.

Das Leitbild muss sich nämlich mit zentralen, teilweise auch umstrittenen Fragen befassen und sich auch mit den Schwächen einer Stadt auseinandersetzen. Es geht um die Verwendung und Gestaltung des öffentlichen Raums, Nutzungs- und Angebotsmix, innerstädtisches Verkehrsmanagement, Kultur, Fragen des Marketings, und so weiter. Es ist eine Basis dafür, dass die Attraktivität der Städte weiter gesteigert werden kann und, das ist ein zentraler Hauptnutzen von Leitbildern, dass sich die Bürgerinnen und Bürger der Stadt wohlfühlen: gehört, verstanden, angenommen.

„Die entscheidende Frage ist: Wer entscheidet denn in den Städten?“, fragt Maria Angerer, selbständige Soziologin mit Schwerpunkt Netzwerke und Zukunftsforschung. Angerer ist Mitbegründerin des Instituts für partizipative Sozialforschung in Wien, das sich mit Netzwerk-Erhebungen für die Stadtentwicklung beschäftigt. „ Es sind einerseits Stadtregierungen und Stadtverwaltungen, die in den letzten Jahrzehnten immer stärker bestrebt sind, BürgerInnen in ihre Entscheidungen einzubeziehen. Wie das geschieht, damit beschäftigt sich eine ganze Szene von Stadtentwicklern, Prozessgestaltern, Soziologen, Architekten und Raumplanern. Tatsache ist aber, dass es mit einem rein repräsentativen Ansatz nicht mehr getan ist. Es reicht nicht mehr, die Gestaltung der Zukunft an Experten auszulagern. Wer mitbestimmt, trägt diese Entscheidung mit und ist auch mit dabei, sie umzusetzen. Veränderung und Entwicklung in einer Stadt  – beides braucht Menschen, die denken und handeln – keine bloßen Konsumenten oder Wähler. Und: Wer Menschen zum Denken und Handeln bringen will, muss sie als ganze Menschen sehen – und nicht in ihrer „Rolle“ als Wähler oder „Beteiligter“, sondern mit ihren Visionen, Bedürfnissen und Wünschen und muss zulassen, diese in ihrer Fülle kennenzulernen und ernst zu nehmen. Das Kennenlernen funktioniert nur über Kontakte und Begegnungen; das erfordert die Fähigkeit zum Zuhören, Lernen und einen Perspektivenwechsel. Das erfordert die Bereitschaft, die eigenen Denkpfade zu verlassen, und sich auf andere Standpunkte tatsächlich einzulassen. Es erfordert die Bereitschaft, zu erwägen, dass der Andere recht haben könnte.“

Ja, das klingt anstrengend. Die Mühe lohnt sich aber. Das haben jene Städte gezeigt, die zur BürgerInnen-Partizipation einluden. Unsere Kultur besteht aus Individualisten; viele möchten heute anders als die ‚Anderen’ sein. Unser Ziel sollte es jedoch sein, gemeinsam unseren Lebensraum zu erhalten, der uns eine individuelle Freiheit gewährt. Dafür müssen wir gemeinsame Nenner finden und zwischen Abteilungen und Arbeitsbereichen lernen, effizient und mit Verständnis für andere Meinungen zu kommunizieren. Diesen gemeinsamen Nenner zu finden braucht Identität. Und diese Identität wird sich nur entwickeln lassen, wenn wir wissen, wer wir sind, das heißt aber auch, wer der Andere ist: der Reiche, der Arme, der Alter, der Junge, der Einheimische, der Eingewanderte, der mit Lohnzettel und der ohne, der links, mitte oder rechts wählt.

 Das Herausfinden dieser Stadt-Identität ergibt sich nicht einfach aus der Geschichte oder Tradition heraus. Es reicht nicht, diese Herausforderung an eine Werbeagentur auszulagern. Identitätsfindung ist Verhandlungssache. Und zwar zwischen allen Bewohnern.

Wenn das Leitbild einmal definiert ist, unterliegt es einer regelmäßigen Kontrolle und Kurskorrektur. „Das Leitbild einer Stadt, eines Standorts oder einer Region unterliegt einem dynamischen Prozess.“, erklärt Claudia Brandstätter. „Stellen Sie sich als Analogie zum Leitbild einen Netzplan vor“, fügt Brandstätter hinzu, „mit immer mehr Erlebnishaltestellen und den unterschiedlichsten Verkehrsmitteln, vom Rad-Taxi bis hin zum Schnellzug, alle mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs, und trotzdem steht immer das Wohlfühlen bei der Weiterentwicklung im Vordergrund. Einmal im Jahr muss man auf alle Fälle hinterfragen, inwieweit die Leitsätze in den unterschiedlichen Bereichen der Stadt gelebt werden. Es ist das Leben im Alltag, welches das Leitbild erst lebendig macht.“

Leitbilder unterliegen also einem fließenden Prozess, der regelmäßig gesellschaftspolitische Elemente und jene, die der Markt über die Jahre verlangt, ins bestehende Leitbild integriert. Im Falle des Leitbilds von Hamburg hieß das zum Beispiel, „dass Hamburg mit der Integration des Fokus auf die Kreativwirtschaft ein zweites Standbein bekam“. Die eine Stadt mag ihre Anstrengungen auf die Bereiche Luftfahrt, Logistik und Hafen legen und daneben zur Integrationsstadt werden, und noch eine andere will sich zur Talentstadt entwickeln, um kreative Menschen aus aller Welt anzuziehen. Diese Talentstadt fokussiert dann im Leitbild alle Cluster auf den Aspekt der „Kreativität“.

Jan Gehl, der ‚das menschliche Maß’ als Prämisse für eine erfolgreiche Stadtgestaltung sieht, rundet das Thema zur angepeilten Leitbildüberarbeitung von Städten ab. Er sagt in einem Interview mit der Tageswoche in der Schweiz: „Die Menschen wollen mehr darüber erfahren, wie die Stadt in zehn, zwanzig Jahren aussieht, wenn ihre Kinder und Enkel groß sind. Sie können gute von schlechten Alternativen unterscheiden. Mitwirkung ist gut, aber ihre Voraussetzung ist Aufklärung. Die Menschen müssen ganz genau wissen, worüber sie entscheiden können. Wenn man zum Beispiel ohne vorherige Information der Bevölkerung verkündet, sämtliche Parkplätze zu entfernen, gibt es einen Aufstand. Meine Frau und ich radelten Seite an Seite mit dem Fahrrad durch Kopenhagen und realisierten plötzlich, wie viel besser unsere Stadt geworden ist. Es ist ein wahnsinnig gutes Gefühl, jeden Morgen zu wissen, dass die Stadt ein wenig besser ist als am Tag zuvor. Das gibt Hoffnung für die kommenden Generationen. Gelingt es einer Stadt, dieses Gefühl zu vermitteln, werden Stadtplaner (Anm. der Redaktion: „und Leitbild-Entwickler“) auf wenig Widerstand stoßen.

Literatur zum Nachlesen:

http://www.roedermark.de/fileadmin/home/News/Repraesentativbefragung/Die_Stadtleitbild-Entwicklung.pdf

http://www.aktive.kernbereiche-hessen.de/dynamo/files/user_uploads/instrumente/04_HSGZ-Sonderdruck_9_05.pdf

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