Kultur im Leerstand: Raum für Neues

07.05.2024
Kultur

Paschil Halle Wels mit Johannes Kastinger und Arno Jungreithmeier
(c) Medienfrau

Unsere Städte sind im Wandel. Das ist auch gut so. Nur museale und tote Städte verändern sich nicht mehr. Derzeit ist eine der größten Veränderungen der letzten Jahrzehnte im Gange. Produkte und Dienstleistungen, die online besser funktionieren, verschieben sich ins Digitale. Seien es Bankgeschäfte, Einzelhandel oder Behördengänge. Unsere Städte werden mit neuen Nutzungen darauf zu antworten wissen. Doch in den Jahren des Übergangs bleiben vielerorts Geschäftsflächen leer, ohne dass eine neue dauerhafte Nutzung sich abzeichnet. Was es braucht, ist eine temporäre Leerstandsbespielung. Denn zum einen sind Leerstände brachliegende Möglichkeiten, die genutzt werden wollen. Und zum anderen fühlen sich Menschen wohler wenn Leben in den Gassen stattfindet. Eine hohe Expertise in der Gestaltung von leeren Flächen und Räumen haben Künstler. Warum also nicht ihnen bzw. ihrer Kunst und Kultur den Leerstand überlassen, um den Gebäuden zumindest zeitweise wieder Leben einzuhauchen?

Durch Kunst entsteht Nutzung, Bewegung, Zulauf von Menschen, das Geschäft oder Gebäude bleibt im Gespräch und im Fokus der Gesellschaft. Der erste Schritt für eine akkordierte Leerstandsbespielung ist die Erhebung der Flächen, die zur Verfügung stehen und diese in Abgleich zu bringen mit der Frage was braucht es wo, welche Besonderheiten sind erwünscht und möglich – vom interimistischen künstlerisches Co-Working-Space bis zum Kulturraum und Galerie. Aus der Praxis gibt es verschiedene Beispiele der Nutzung – hier einige davon.

Raum für das Unvorhersehbare

Ein ehemaliges Gasthaus im Ortszentrum von Abtsdorf wurde von einem Immobilienentwickler gekauft und ein Plan mit Totalsanierung und sechs neuen Wohnungen eingereicht. Solange dieses Verfahren dauerte, wurde dem Künstler und Kunstermöglicher Thomas Gegner das Gebäude zur Verfügung gestellt, um dort mit mehr als 20 Künstler:innen ein offenes Haus der Kultur und ein temporäres Kunstzentrum mitten im Ort zu organisieren.

In diesen drei Jahren installierte Gegner ein Buch-Antiquariat, einen Ausstellungsraum im Parterre und eine begehbare Galerie auf zwei Stockwerken und dem Dachgeschoß. Jeder Raum konnte individuell gestaltet werden, der Ideen wurden keinerlei Grenzen gesetzt, da auf den baulichen Zustand der Zimmer eigentlich keine Rücksicht genommen werden musste. „Es geht darum, Eigentümern den Mehrwert zu erklären, denn die regionale Bedeutung und das Aufscheinen auf der Landkarte durch die kulturelle Nutzung bekommt der Besitzer sozusagen kostenlos“, erklärt Thomas Gegner sein Konzept.

Leerstand mit Aussicht

Das wichtigste dabei ist, dass alle Beteiligten einen klaren Nutzen davon haben – der Leerstandspionier Gegner blickt auf viele erfolgreiche Projekte in ganz Österreich und ist bestens vernetzt. Unter diesem Link bietet er Gemeinden diese künstlerische Form der Revitalisierung und interimistische Nutzung an.
Die Europäische Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut hat in ihren 23 Kulturhauptstadtgemeinden 300 Leerstände erhoben, die für die Kunst- und Kreativszene genutzt werden können. Das Team vermittelt unter dieser Adresse entsprechende Anfragen, da die Adressen aus Datenschutzgründen nicht öffentlich gemacht werden.

Rauminstallation im Gegner-Haus in Abtsdorf
Rauminstallation „Who is afraid of new Normal – I am“ von Michael Endlicher im Gegner-Haus in Abtsdorf ©Medienfrau

Leichenhalle voller Kunstleben

In Weißkirchen in Oberösterreich wurde 2019 eine neue Leichenhalle eröffnet und die für die alte Halle aus den 1970er Jahren nach einer Nachnutzung gesucht. Reinhard Jordan, Bildhauer und Kunsterzieher hat die sieben mal acht Meter umfassende hohe Halle für Kunstzwecke umgewidmet und bespielt sie mit Vernissagen, Ausstellungen und Performances im Sommer und Herbst, da sie günstig an einem Spazierweg gelegen ist und damit viele Möglichkeiten für Treffen bieten.

Weißkirchen - Papierinstallation in der Leichenhalle mit Reinhard Jorda
Weißkirchen – Papierinstallation in der Leichenhalle mit Reinhard Jorda © Medienfrau

Das Ebenseer Schlachthaus

Vor 25 Jahre ist das ehemalige Schlachthaus mit Verkaufsladen im Zentrum von Ebensee geschlossen worden – seit drei Jahren der perfekte Ort für den hauptberuflichen Lehrer Jakob Kinz, seine großformatigen Öl-Acryl-Schüttbilder herzustellen. Dort arbeitet er, um die Gewalt gegen Tiere darzustellen und die Leere zu füllen.

Ein nahe gelegenes Verkaufsgeschäft das ebenfalls seit Jahren leer steht nützt er als Bilder-Galerie, beinhaltet 24.000 Bücher und bietet Raum für Lesungen, Schreibworkshops, Vernissagen und kleine Konzerte. „Die Ebenseer wissen, dass sie gerne hereinkommen und schmökern können, wenn bei uns das Licht brennt. Es braucht junge Menschen und Leerstände sollen sozialen Raum geben, um Gleichgesinnte zu treffen“ ist die Motivation von Jakob Kinz für sein Engagement und die künstlerische Belebung von Ebensee.

Stadtgalerie Judenburg

Die Stadt Judenburg hat vor Jahren einen Leerstand inmitten der Stadt in eine kleine aber feine Galerie entwickelt. Mehrmals im Jahr wechselnd werden hier Arbeiten von Künstlerinnen und Künstler ausgestellt. Betrieben wird die Galerie über das Stadtmarketing, die sich jedoch für die Auswahl der Künstler der Expertise eines eigenen Kurators bedient. Darüber hinaus gab es in Judenburg über mehrere Jahre ein Artist in Residence-Programm in einem Leerstand.

Bei AiR-Programmen leben ausländische Künstler über mehrere Wochen oder Monate in der jeweiligen Stadt. In der Regel wird dafür die Unterkunft gestellt, ein gewisser Obolus bezahlt und, zumindest bei bildnerischen Künstlern, auch ein Leerstand zur Bespielung bereitgestellt. Meist wird nur ein Durchlauf pro Jahr organisiert. Wenn solche Projekte über längere Zeit laufen sollen bietet es sich also an, die Struktur dahinter gut zu planen um gegebenenfalls auf wechselnde Leerstände zurückgreifen zu können.

Pinsel statt Gitarre Anlässlich der Feierlichkeiten zu 950 Jahr Judenburg ist eine internationale Künstlergruppe aus Piran zu Gast in der Stadtgalerie Judenburg.
Pinsel statt Gitarre Anlässlich der Feierlichkeiten zu 950 Jahr Judenburg ist eine internationale Künstlergruppe aus Piran zu Gast in der Stadtgalerie Judenburg © Stadtgemeinde Judenburg

Villa Müller

Wie geht man mit einer herrschaftlichen, aber seit Jahren leerstehenden Villa am Rande einer historischen Altstadt um? Die Agenturen NEST und Studio SAAL nutzten in Rahmen eines Zwischennutzungskonzeptes knapp 800qm Wohnfläche. Die Villa Müller bot sowohl in ihren ehrwürdigen Räumlichkeiten als auch im Garten mit Blick auf die Altstadt jede Menge Platz für Arbeit, Kunst & Kultur, Veranstaltungen aller Art sowie Übernachtungen.

Im hauseigenen Coworking Space konnten Arbeitsplätze angemietet, der Besprechungsraum und die beiden Salons im Erdgeschoss für Seminare oder Veranstaltungen aller Art gebucht werden. Das Projekt ist mittlerweile abgeschlossen, erbrachte jedoch zahlreiche Erkenntnisse darüber, was an solchen Orten funktioniert und was nicht.

Villa Müller bei Sommerveranstaltung im Garten
Villa Müller bei Sommerveranstaltung im Garten, ©Patricia Keckeis

Literatur zum Thema

Thomas Gegner hat auch am „Handbuch für Leerstände“ mitgearbeitet – hier der Downloadlink. Es liegt ihm eine Studie zugrunde, gefördert vom BML (Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Regionen und Wasserwirtschaft) und zielt darauf ab, das vorhandene Wissen zur Typisierung, Erhebung und Reaktivierung von Leerständen im Stadt- und Ortskern zu erfassen und in einem umfassenden Nachschlagewerk den bereits tätigen und in Zukunft neu tätigen Leerstandsmanager:innen in österreichischen Gemeinden und Regionen zugänglich zu machen.

Das Buch „Die Stadt als Anlass“ versammelt alle Projekte der „atmosphärischen Stadtraumgestaltung“ in Feldkirch/Vorarlberg. Eine Anregung über Nutzungsszenarien und wie man sich diesen Themen nähert.

Thomas Gegner in seinem Dachbodenatelier im Gegnerhaus
Thomas Gegner in seinem Dachbodenatelier im Gegnerhaus © Medienfrau

Fazit

Leerstände sind Möglichkeitsräume, das haben wir bereits in diesem Beitrag aufgezeigt. Wichtig ist es, solche Lücken mit Leben zu füllen und neue Ideen zuzulassen. Kunst war immer schon avantgardistisch und ist ideal geeignet neue Formen der Nutzung zu entwickeln.

Kunst hat keine starren Konzepte und kann sich den jeweiligen Umständen anpassen – im Grund genommen sind kurzfristige räumliche Gegebenheiten sogar eine wahre Spielwiese für Menschen, die in diesem Bereich tätig sind. – Wenn man sie denn lässt. Stadtmarketing kann mit seinen Kompetenzen und Netzwerken hier die richtigen Menschen zusammenbringen und als Inkubator agieren.

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Edgar Eller

Selbständiger Unternehmensberater und Hochschullehrer.

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