Schall als Chance: Die Stadt als Schalluniversum

07.01.2020
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Schon bei oberflächlicher Überlegung wird klar, dass es nichts im Leben eines Menschen gibt, das nicht Schall erzeugt und hervorruft. Der Mensch selbst, seine Handlungen, die Umgebung, – alles ist Schall. Deshalb wirkt sich Betriebstaubheit oft fatal aus.

 

Die wichtigsten Dinge fallen oft am wenigsten auf. Typischerweise werden sie erst durch einen Verlust bewusst. Natürlich denken wir da sofort an Menschen, die man vielleicht verlieren könnte. Nahe Angehörige, die als vom eigenen Leben untrennbar empfunden werden, oder Freundinnen und Freunde können solch eine Rolle spielen.

Bei manchen trifft das auch auf Haustiere zu, auf Dackel, Mopse, Schnauzer oder Pinscher genauso wie auf die alte, dicke, schnurrende Katze, die den ganzen Tag am Fensterbrett liegt. Das plötzliche Verschwinden eines solchen Wesens kommt einer persönlichen Katastrophe gleich. Das ganze Leben wird auf den Kopf gestellt. Alles muss neu überdacht und organisiert werden.

 

Diese Blindheit (wichtigen) Dingen gegenüber kommt nicht nur im Alltag, im privaten Leben vor. Nein, im Gegenteil: sehr oft begegnet sie einem als Betriebsblindheit. Diesen Begriff kennt jeder und jeder weiß, was damit gemeint ist. Wichtige Dinge werden dabei „übersehen“, quasi vergessen, weil sie zu selbstverständlich erscheinen.

Sehr oft betrifft diese Blindheit Dinge, die eigentlich zu hören sind, – also akustische Phänomene. Dann müsste man von Betriebstaubheit sprechen. Ich weiß nicht, ob Betriebsblindheit oder -taubheit beängstigender klingt. Ich wette aber, dass die Betriebstaubheit bei weitem öfter vorkommt.

 

Acoustic Turn

Auch wenn seit über zehn Jahren der Acoustic Turn propagiert wird, wird die akustische Sphäre in unserem Leben nach wie vor stiefmütterlich behandelt. Obwohl der Mensch immer hört, in jeder Minute und Sekunde seines Lebens, selbst im Schlaf. Die Ohren sind immer auf Empfang. Die Augen verschlafen dagegen ein Viertel bis zu einem Drittel des Lebens.

 

Der Acoustic Turn meint ursprünglich eine Tendenz aus der Werbewirtschaft, nämlich die Hinwendung zu akustischen Gestaltungsmitteln. Da die visuelle Welt quasi überfüllt sei, wäre die forcierte Besetzung des Akustischen die Alternative. (Der nächste Schritt wird auch schon begangen, nämlich die strategische Planung von Geruchswelten.) Mehr Aufmerksamkeit für unsere akustische Umwelt und für uns selbst als akustische Wesen birgt viele Entwicklungschancen. Chancen, die uns die Betriebstaubheit bisher verwehrt.

 

Durch das Internet ist der Acoustic Turn endgültig in unserem Leben angekommen. Wer das vergleicht mit den Umständen vor dem Internet, erkennt die revolutionäre Veränderung. Es gibt fast keine Veröffentlichungen mehr, die ohne Klang auskommen. Sogar die Tageszeitungen bieten im Netz Videos und Podcasts an.

Das sind meist Hördateien, die auch abonniert werden können. Das Wort setzt sich aus dem englischen Wort Broadcast für Rundfunk und dem tragbaren MP3-Player iPod zusammen. Auch die Millionen und Abermillionen Videos auf Youtube oder anderen Plattformen haben Sound.

Zu allen möglichen Themen gibt es Filme, Filmchen, Trailer oder Fotofolgen, die mit Musik und Kommentaren versehen sind. Die meisten Internetseiten haben auch einen „Grundklang“, so wie im Geschäft die Hintergrundmusik.

 

Aufzugmusik

Ebendiese umgibt uns im „echten“ Leben immer und überall. Beim Einkaufen in Supermärkten, in Boutiquen, beim Kaffee in der Konditorei und natürlich am Abend beim Gläschen in der Bar. Überall ist Hintergrundmusik oder Elevator-Music, wie die Amerikaner sagen. In diesem Wort erkennen wir auch die ursprüngliche Motivation.

Als die ersten Wolkenkratzer gebaut wurden, musste wohl oder übel auf Aufzüge gesetzt werden. Wie man sich vorstellen kann, dauerten diese Fahrten in den 20er- und 30er-Jahren eine halbe Ewigkeit. Es ruckelte, es quietschte, die Motoren dröhnten. Kein Wunder, dass die Leute Angst davor hatten.

Die meisten schleppten sich – solange es ging – die Treppen hinauf. Da kam jemand auf die Idee zur Aufzugs-Musik. Die Musik sollte die Leute entspannen und ablenken. Wir wissen, dass das gut funktioniert hat. Die modernen Aufzüge schnurren nun wie ein Kätzchen. Das Genre der Elevator-Music gibt es aber noch immer, auch wenn es heute Easy-Listening genannt wird.

 

Heute schnurren Aufzüge wie Katzen, so leise sind sie. Früher rumpelte und quietschte es. Da sollte die Elevator-Music beruhigen. (Foto: piqsels)
Heute schnurren Aufzüge wie Katzen, so leise sind sie. Früher rumpelte und quietschte es. Da sollte die Elevator-Music beruhigen. (Foto: piqsels)

 

Lifestyle hören

Lange blieb es auch so. Musik sollte die Menschen entspannen. Doch die 60er-Jahre brachten einen grundlegenden Wandel auch in die Welt des Hörens. Musik wurde mehr und mehr zum Ausdruck der Individualität und zum Zeichen eines Lebensstils. Ich denke nur daran, wie indigniert ein Fan der Rolling Stones von einer Frage nach den Beatles sein konnte. Das ging gar nicht zusammen.

Und das ließ sich auch in der Wirtschaft beobachten. Zuerst setzte die Gastronomie auf bestimmte Musikstile, um eine klar definierte Klientel anzusprechen. Dann setzte sich das fort im Handel, besonders in der Mode. Der Lebensstil drückte sich ganz besonders in der Musik aus, die im Laden zu hören war.

So kam es zu einer fortwährenden Differenzierung, fast bis heute. Denn mit dem Internet zerflossen die Genregrenzen. Das kann man auch an Begriffen wie Volksrock’n’Roller erkennen. Ursprünglich Unvereinbares wird zusammengeführt: Rock, Beat, Pop, Soul, Jazz, Country – wer kümmert sich noch darum?

 

Beschallungsfrei

Die Möglichkeit, sich durch Musik von anderen zu unterscheiden, schwindet zunehmend. Herkömmliche Beschallungskonzepte verlieren die Grundlage. Heute muss intelligenter mit Beschallung umgegangen werden oder man sollte darauf verzichten. Das ist auch die Chance der Kampagne „Beschallungsfrei – Zone ohne Hintergrundmusik“ (beschallungsfrei.at).

Der Aufkleber mit dem stilisierten Ohr (siehe Titelbild) zeigt, dass hier keine Musik gespielt wird. Nicht weil Musik böse wäre, nein, sondern weil ohne Musik die Aufenthalts- und Kommunikationsqualität beträchtlich erhöht wird. Reden und Hören gelingt bedeutend besser und auch die Orientierung im Raum profitiert erstaunlich.

Das ist auch erwähnenswert, weil die Europäer ja rasant älter werden. Diese durchwegs positive Entwicklung bringt auch manchen Nachteil mit sich. Ungefähr ein Drittel der Bevölkerung leidet unter Schwerhörigkeit. Dieses Drittel wird durch Hintergrundmusik übermäßig an der Kommunikation gehindert, also eigentlich behindert.

Auch und besonders durch die sogenannten „Musikbetten“ bei Telefonwarteschleifen, im Radio bei Wetterberichten und Schlagzeilen, im Fernsehen bei Infotexten, Berichten oder Nachrichten.

 

Taube Planung

Es ist ein paradoxes Phänomen, dass wir als akustische Wesen in fast allen Lebensbereichen so tun, als ob wir taube Wesen wären. Wir können mit Erstaunen feststellen, dass damit nicht nur eine Menge von Unzulänglichkeiten verbunden ist. Viel wichtiger ist, dass damit auch viele Chancen ungenutzt bleiben.

Ein ganz besonderer Fall von Betriebstaubheit ist mir vor einiger Zeit in einer mittelgroßen österreichischen Stadt untergekommen. Ein Bauunternehmer hat schon leicht in Panik bei mir angerufen und um Hilfe gebeten. Sein Unternehmen hatte einen Bau mit gehobenen Eigentumswohnungen geplant, romantisch am zentralen Bach des Städtchens gelegen. Obwohl der Bach unter Naturschutz stand, war es im Laufe des Vorhabens gelungen, den Bach während der Bauarbeiten umzuleiten.

Das Haus wurde also in einer recht leisen Umgebung hochgezogen. Die betuchten Käufer freuten sich auf Terrassen und Balkone am Ufer des Baches. Es wurde gemauert, gehämmert, gebohrt und am Feierabend war Ruhe. Der Tag der Fertigstellung nahte.

 

Schalldesaster

Schließlich wurde der Bach in das angestammte Bett zurückgeleitet. Alle freuten sich. Schnurstracks kam die Ernüchterung. Der Bach rauschte so laut, dass die Menschen auf Terrassen und Balkonen nicht einmal ihr eigenes Wort verstehen konnten. Es entstand ein großes Tohuwabohu, Streit, Hader, Schuldzuweisungen.

Von den freudigen Erwartungen war nichts übrig. Fachleute kamen. Messungen wurden gemacht, Wohnungen neu bewertet, zurückgekauft, verkauft usw. Ein Desaster. Und niemand fühlte sich zuständig, es war wie eine Naturkatastrophe! Unerwartet, aber eigentlich vorhersehbar und vorherhörbar.

 

Schall als Chance: Meist wird geplant ohne an Schall zu denken. Dadurch werden viele Chancen verspielt und teure akustische Sanierungen riskiert. Foto @ piqsels
Meist wird geplant ohne an Schall zu denken. Dadurch werden viele Chancen verspielt und teure akustische Sanierungen riskiert. Foto @ piqsels

 

Ein klassischer Fall von Betriebstaubheit: es wurde geplant, als ob wir stumme und taube Wesen wären. Riesige Pläne werden gewälzt. Das sind meist recht feste Papiere im Überformat, die mühsam auf übergroßen Tischen ausgefaltet und glatt gestrichen werden. Dann stecken alle die Köpfe zusammen und sinnieren über die räumlichen Lösungen.

Alle schauen und denken und denken und schauen. Obwohl schon bei oberflächlicher Überlegung klar wird, dass es nichts im Leben eines Menschen gibt, das nicht Schall erzeugt und hervorruft. Der Mensch selbst, seine Handlungen, die Umgebung, – alles ist Schall. Deshalb wirkt sich die Betriebstaubheit oft fatal aus.

 

Raumplanung akustisch

Wer von Österreich aus nach Deutschland fährt, egal ob mit Zug oder Auto, dem könnte schnell auffallen, dass es in Bayern viel schöner ist (sorry!). Der Eindruck kommt schleichend und verfestigt sich mit der Zeit. Bayern ist nicht verhüttelt und kennt fast keine Lärmschutzwände! Während in Österreich Autobahnen und Bahnstrecken fast überall zugebaut sind, sehen wir in Bayern die freie Landschaft.

Warum? In Österreich liegt die Raumplanung beim Bürgermeister. Der gesamte Druck nach Baugründen, sei es privat oder gewerblich, liegt auf ihm. In Deutschland ist die Raumplanung eine Sache des Kreises. Die Verwaltungseinheit Kreis kann in Deutschland schon so groß sein wie in in Österreich ein Bundesland.

Dadurch werden übergeordnete Ziele verfolgt: geschlossene Siedlungen und freie Natur- oder Landwirtschaftsflächen. Da braucht es keine Lärmschutzwände.

 

Schall als Chance

Sicher erfährt man von der Welt oft mehr, wenn man genau zuhört als wenn man genau hinsieht. Diese einfache Weisheit bietet viele Ansatzpunkte für die Entwicklung von neuen Strategien, Angeboten und Produkten. Der gemeinnützige Verein Hörstadt begreift sich selbst als Labor für Akustik, Raum und Gesellschaft.

Im Spannungsfeld dieser drei Begriffe setzt er sich für eine bewusste und menschengerechte Gestaltung der akustischen Umwelt ein. Der Mensch begreift die Welt hauptsächlich durch Schall. Es wird gehört und geredet, Geräusche warnen vor Gefahren und gewährleisten die Orientierung im Raum.

Im Wort Person ist zu erkennen, dass das schon die alten Lateiner wussten. Es heißt ja der Durch-Klinger. Da wir Schall unbedingt zum Leben brauchen, kann er auch als Lebensmittel betrachtet und behandelt werden. Schall gehört gestaltet. Das kann in Stadtentwicklung und Stadtmarketing neue Chancen eröffnen. Die Stadt ist ein unerschöpfliches Schalluniversum.

 

Ein paar Anregungen für die Touristiker

Städtereisenden wird vor allem visuelles Material angeboten. Seien es gedruckte Reiseführer oder Online-Auftritte mit Plänen, Fotos und Texten. Wie klingt unsere Stadt? Diese Frage kann dagegen neue Wege eröffnen. Hörenswürdigkeiten können akustisch bemerkenswerte Orte genannt werden, die auch als solche gekennzeichnet werden.

Sie lassen sich gut in Hörplänen oder Hörstadt-Plänen zusammenstellen und vermitteln. So können Einwohner und Besucher nicht nur die Sehenswürdigkeiten sondern auch die Hörenswürdigkeiten erleben. Mit Hörspaziergängen oder Soundwalks verbinden sich das Spazieren und Flanieren mit dem aufmerksamen Hören zu einem echten Eintauchen in die Stadt.

Spektakuläre Zeichen und ein Hinweis auf die Körperlichkeit des Schalls sind Hör- und Schallrohre. Sie stellen – vor allem auch für Kinder – eine attraktive Gelegenheit dar, die Umgebung spielerisch hörend zu erkunden. Und im Internet gibt es die wunderbare Gelegenheit, eine Stadt akustisch darzustellen – mit Klangbeispielen, Podcasts oder Soundbibliotheken.

 

Tipps für die Gastronomie

Wenn das persönliche Gespräch der Gäste ein wichtiges Argument ist, dann ist der Verzicht auf Beschallung eine Möglichkeit. Damit die Kunden das auch wissen, ist es gut, das Lokal mit dem Beschallungsfrei-Aufkleber zu kennzeichnen. Aber es muss nicht Entweder-Oder heißen. Bei verschiedenen Gastroräumen bieten sich auch differenzierte Konzepte an. Hier Musik, dort andere Musik, da Wasserklänge, dort Stille. Nutzen Sie die Möglichkeiten.

Die Leute werden es schätzen. Besonders dann, wenn Sie damit architektonisch problematische Bereiche verbessern. Ein Gewölbe etwa hat akustisch ungünstige Eigenschaften, die durch Musik noch verschlechtert werden. Hier Ruhe zu haben, erhöht die Kommunikationsqualität bedeutend.

Ein Streitfall ist die Beschallung in Toilettanlagen. Vielen gefällt es, weil dadurch intime Geräusche überdeckt werden. Andere meinen, dass nicht auch noch da Musik sein muss. Wenn es im Lokal Zonen gibt, die unterschiedliche akustische Eigenschaften haben, auch da und dort Ruhe, dann ist gegen Musik in Toiletten nichts einzuwenden.

Lassen Sie den Menschen die Wahl und hören Sie auf ihre Wünsche. Auch im Akustischen. Eines ist klar: durch keine oder wenig Musik fällt der Betrieb mehr auf als mit Musik.

 

Das gilt auch für den Handel

Die Chancen nutzt viel mehr, wer verschiedene Zonen schafft mit verschiedenen Musiken und auch Ruhe. Auch ist der Einsatz von angenehmen Geräuschen zu bedenken. Intelligente Systeme, die auf die Situation im Geschäft reagieren, sind noch Zukunftsmusik. Ein No Go für alle ist auf jeden Fall die Unterlegung von Infotexten mit Musik.

Diese „Musikbetten“ senken die Sprachverständlichkeit eklatant und verunsichern, egal ob in der Telefonschleife, im Infovideo oder der Lautsprecherdurchsage. Musik ist gut. Aber nicht immer und überall.

 

Peter Androsch betreibt Schallkunst: Schall gestalten, verstehen, festhalten. Sein breites Œuvre umfaßt die Felder Komponieren, Musizieren, Phonographie und Akustik: peterandrosch.at, hoerstadt.at Foto @ Anatol Bogendorfer
Peter Androsch betreibt Schallkunst: Schall gestalten, verstehen, festhalten. Sein breites Œuvre umfasst die Felder Komponieren, Musizieren, Phonographie und Akustik: peterandrosch.at, hoerstadt.at Foto @ Anatol Bogendorfer

Titelbild (c) Hörstadt

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