Architektur von unten: Partizipatives Bauen

05.12.2017
Architektur

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Gemeinsam planen, gemeinsam bauen, gemeinsam leben. Ein Blogbeitrag über partizipatives Bauen von Journalist Michael Kerbler.

„Es gehört zu den großen Widersprüchen der modernen europäischen Stadt, dass sie erst die Geburtsstätte des individualisierten Lebens war. Dann aber just an dieser Individualisierung leiden sollte, an der Vereinzelung, am zerstobenen Zusammenhalt. In der Digitalmoderne könnte dieser Widerspruch aufweichen. Denn sie bestärkt das urbane Ich und befördert das urbane Wir,“ schreibt der deutsche Kunsthistoriker und Architekturkritiker Hanno Rauterberg.

Die Zahl jener Bürger und Bürgerinnen, deren „urbanes Ich“ stärker wird, sprich das Verlangen in Gemeinschaft zu leben anstatt nur zusammen unter einem Dach, wächst. In ganz Europa.

In zahlreichen europäischen Städten wird ein Aufbruch spürbar, ein urbaner Neuanfang. Ein wesentlicher Aspekt dieser Entwicklung, die erst am Anfang steht, ist das stärkere Involvieren von Bürgerinnen und Bürgern, die an der Gestaltung „ihrer“ Stadt teilhaben, also daran partizipieren wollen.

BürgerInnen gestalten „ihre“ Stadt

Die Partizipation der BürgerInnen hat in Österreich seit der Jahrtausendwende ihren Charakter verändert. Partizipation reicht heute weit über die fokussierte Definition, die die Beteiligung von BürgerInnen am politischen Leben beschreibt, hinaus. Partizipation – im Spannungsfeld von Teilhabe und Teilnahme diskutiert – meint mehr. Wird Partizipation eher passiv verstanden, dann ist „Teilnahme“ gemeint. In seiner aktiven Bedeutung hingegen steht Partizipation für „Teil-habe“.

Damit wird eine vom österreichischen Architekten Ottokar Uhl formulierte Idee reanimiert, der in der Mieterpartizipation letztlich eine Demokratisierung der Planung sah. „Als Maßnahme nannte Uhl die Mieterpartizipation, welche für ihn eine Verwirklichung des verfassungsmäßig festgeschriebenen Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit darstellte. Mit dem Ziel der Demokratisierung der Planung,“ notiert Architekt Bernhard Steger in seinem Buch „Vom Bauen – Zu Leben und Werk von Ottokar Uhl“.

Architekt Ottokar Uhl hat die österreichische Architekturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich beeinflusst. „Uhls Interesse galt den Bauprozessen unter Mitwirkung der BenutzerInnen, den konstruktiven Möglichkeiten und den Materialien.
Mit dem von ihm eingeschlagenen Weg fort von der Spezialistenkultur hin zu einer Kultur der Betroffenen besitzt sein Schaffen ungebrochene Aktualität“, betonte das „AzW“, das Architekturzentrum Wien, in dem am 3. November 2011 publizierten Nachruf.

Mit dem partizipativen Bauen, das eine Renaissance erfährt, habe ich mich jüngst ausführlich in einer Recherchearbeit für die Stadtplanung der Stadt Wien, befasst. Zwei repräsentative Beispiele möchte ich herausgreifen.

Das Wohnprojekt B.R.O.T.

Ab den 1970er-Jahren befasste sich Uhl mit der Teilhabe der BewohnerInnen am Entwurfsprozess. Das Wohnhaus Feßtgasse, Wien-Ottakring (1973-80) wurde zu einem Vorreitermodell für partizipatives Bauen in Wien. In Wien-Hernals schuf er wenige Jahre später auch das erste Gemeinschaftsprojekt der Baugruppe B.R.O.T.

Das jüngste Wohnprojekt von B.R.O.T. befindet sich in der Seestadt Aspern in Wien. Lange Jahre stand B.R.O.T. für Beten, Reden, Offensein, Teilen. Im April 2015, als das neue Wohnheim der Gemeinschaft B.R.O.T. eröffnet wurde, erhielt der Anfangsbuchstabe „B“ eine zweite Bedeutung: „Begegnung“.
Die Gemeinschaft möchte mit einem partnerschaftlichen und solidarischen Zusammenleben auf die zunehmende Vereinsamung des Menschen und die Isolierung von Familien reagieren.

Architekt Michael Kuzmich: „Bei „B.R.O.T. Aspern“ ging es ganz wesentlich um soziale Familienstrukturen in der Stadt. Um generationenübergreifendes Wohnen, um gegenseitige Unterstützung, aber auch um Single-Haushalte, ältere Personen, um junge Familien mit Kindern.
Mit einem Wort: der soziale Aspekt war ganz wichtig, nicht nur oder nicht ganz ausschließlich das eigene Planen des eigenen Wohnumfeldes. Um es in meinen Worten zu sagen: Es geht um die kleine Gemeinde in der Stadt mit gegenseitigen Unterstützungen, wie es hier im Haus auch gelebt wird.“

Außenkommunikation

Bei der Suche neuer Mitglieder hat der Verein, genauer die Kerngruppe, auf Außenkommunikation gesetzt, betont Karl J. Mang, Mitglied der Gemeinschaft B.R.O.T.. „Auf Mundpropaganda wurde ganz stark gesetzt und ebenso auf Social Media. Wir haben zum Teil auch Werbung gemacht in diversen Foren und Medien.

Dadurch wurden Möglichkeiten geschaffen, die Mitglieder, sprich unsere Nachbarn auszusuchen. Wir haben regelmäßige Treffen abgehalten. Die Leute haben sich vorgestellt und erklärt, warum sie mitmachen wollen. Eine gegenseitige Beschnupperungsphase von etwa drei Monaten war vorgesehen. Die Neuen sollen auch wissen, worauf sie sich einlassen in so einer Gemeinschaft.“

Was B.R.O.T. von anderen Wohnprojekten unterscheidet ist der Umstand, dass die Gemeinschaft auch die Bauabwicklung selbst durchgeführt hat. Sprich sie agierte als GU, als Generalunternehmer. „Weil wir alles selber gemacht haben, haben wir bei der Bausumme sparen können.
Mit 10% bis 15 % für Bauträger oder GU-Zuschlag können sie schon rechnen. Und bei unserer Bausumme macht das eine Million Euro aus. Um das konnten wir mehr bauen,“
beschreibt Karl J. Mang, betont aber zugleich den enormen Arbeitsaufwand und das wirtschaftliche Risiko dieser Vorgangsweise.

Für die Beteiligten des Gemeinschaftsprojekts besteht kein Zweifel, worin die Vorteile partizipativen Bauens bestehen. Für die Gruppe selbst, wie auch für die Stadt.

Karl J. Mang: „Ich glaube, dass sich die Gesellschaft, Stadt, Land und der Bund Gelder sparen, wenn er solche Projekte fördert oder fruchtbarere Rahmenbedingungen schafft. Zur Kinderbetreuung: Die Kinder sind hier im Hause unterwegs, weil dies ein gesichertes Umfeld bietet. Jeder kennt die Kinder, jeder passt auf wie am Dorf früher. Man kümmert sich um die Alten und die, die Hilfe brauchen.

Wir haben eine Dame im Haus, die ist jetzt quasi endgültig erblindet. Um sie kümmert man sich. Wäre sie allein in einer Wohnung, müsste sie eine soziale Hilfseinrichtung in Anspruch nehmen oder einen sozialen Dienst, der sie regelmäßig zu Hause aufsucht. Hier machen das die Nachbarn. Die Leute helfen einander gegenseitig, weil man gemeinsam wohnt, weil jeder sagt, das ist unser Haus und wir halten zusammen. Und damit erspart sich die Stadt in einer älter werdenden Gesellschaft auch viel Geld.“

Das Wohnprojekt Hermanngasse

Auch für den aus Zell am See stammenden Architekten Rüdiger Lainer war Ottokar Uhl eine Leitfigur. „Mit partizipativem Bauen hatte ich schon während des Studiums zu tun. Architekt Ottokar Uhl war ein sehr spannendes Vorbild. Und Eilfried Huth. Dass man sagt, Architektur ist politisch, Architektur hat soziale Relevanz, hat eine gesellschaftsverändernde Relevanz.
Um die Gesellschaft zu verändern, muss man auch die Bedingungen verändern. Ein Teil davon sind natürlich auch die Lebensbedingungen, Wohnbedingungen, nicht nur die Produktionsbedingungen.“

Eines der ersten Wohnprojekte in Wien, das in ein bestehendes Haus implantiert wurde, befindet sich in Wien-Neubau, dem 7. Bezirk der Bundeshauptstadt. Das Wohnprojekt wurde in einem teilweise denkmalgeschützten Gebäude aus dem Jahr 1825 sowie einem dahinterliegenden Fabrikgebäude errichtet, das Ende des 19. Jahrhunderts erbaut wurde. Eröffnet wurde das Projekt im Jahr 1989.

Die Mitbestimmungsphase begann der planende Architekt Rüdiger Lainer unkonventionell. Es ging ihm nicht um Wohnungsgrundrisse, sondern um der Ergründung des Lebensentwurfs der künftigen BewohnerInnen des Hauses in der Hermanngasse.
„Versucht euch einmal vorzustellen, wie ihr gerne leben würdet. Nicht im Sinn von Räumen, sondern: wie lebe ich von Träumen, von Geschichten, wo fühle ich mich wohl? Macht dafür Gedichte, Bilder, Theaterstücke, Geschichten oder Ähnliches. Was ist die Vision einer zukünftigen Welt, die Dir farbig genug ist, um spannend und erstrebenswert zu sein. Aber auch vage genug, um Potential für konkrete Entwicklung zu haben!“

Mit diesem Auftrag im Gepäck gingen damals die mitgestaltenden künftigen BewohnerInnen ans Werk.

„Ich bin eher über meinen politischen Anspruch auf Uhl gekommen. Wobei: ich habe damals gemerkt, dass mir das Partizipative – also ich wähle aus, was ich möchte, nenne meine Vorstellungen vom Familienleben und vom Wohnungsgrundriss – einfach nicht weit genug geht. Mir ging es darum: Grundsätzlich, gibt es eine Methode, dass man das Reich der Möglichkeiten öffnet, also die Tore zum Reich der Möglichkeiten öffnet, etwas pathetisch formuliert.“

Als Bereicherung bewertet Lainer heute rückblickend die gemeinsame Entwicklungsarbeit mit den WohnungsnutzerInnen. Der Dialog habe den Zugang zu durchaus unkonventionellen architektonischen Lösungen geöffnet, wie die „Implantate“ – etwa den Einbau von Nasszellen im Wohnraum –, die Farbgebung der Innenräume oder die Gestaltung der Gemeinschaftsräume.

Sieglinde Dörfler, langjährige Bewohnerin des Hauses, erinnert sich an den Findungsprozess der Gruppe. „Zuerst muss ich wissen, was will ich und was mir wichtig ist im Zusammenleben. Und ich muss wissen, welches Konzept ich für mein Leben habe. Auch für mein Alltagsleben. Halte ich zum Beispiel Kinder, die Lärm machen, aus – oder Menschen, die anders als ich leben, weil sie eine andere Lebenseinstellung haben. Es ist wichtig, ehrlich zu sich zu sein.

Welche Wünsche habe ich?

Bin ich für das Wohnprojekt, weil ich einsam bin und mir Hilfe von anderen erwarte? Es ist ein langer, oft mühsamer Weg. Natürlich gab es in der ersten Zeit besonders viele Diskussionen, aber so lernt man die Anderen und sich selbst kennen. Wo muss ich vorsichtig oder toleranter, großzügiger sein. Und man sollte darauf achten, dass man keinen Querulanten dabei hat.“

Für Sieglinde Dörfler ist das Projekt geglückt. Unter anderem auch deshalb, weil es seit der Gründung des Projekts nur drei Besitzerwechsel gegeben hat, davon einen durch den Tod eines Bewohners. Sie selbst ist vor kurzem deshalb ausgezogen, weil ihr die Wohnung zu groß geworden ist und sie in der Nähe der Tochter wohnen möchte. „Aber der Kontakt mit den Menschen, die ich verlassen habe, bleibt aufrecht.“

Die Stadt der Zukunft – partizipatives bauen, gemeinsam leben

Für Architekt Rüdiger Lainer sind die vielen Wohnprojekte mit partizipativem Charakter, die zurzeit in Wien gebaut werden, ob jene in der Seestadt Aspern oder etwa im neuen Sonnwendviertel in unmittelbarer Nähe des Wiener Hauptbahnhofs, unübersehbare Signale in Richtung eines gemeinschaftlichen Wir.

„Ich glaube schon, dass die jetzigen Wohnprojekte, aus zwei Aspekten betrachtet, spannend sind. Erstens: man kommt über den Schematismus der meisten Wohnbauten hinaus und man ist wirklich in der Lage Menschen glücklich zu machen. Ich glaube, dass es einfach gut ist andere Wohnformen auszuprobieren, dass das eine mentale und politische Erweiterung mit sich bringt. Zweitens: die jetzigen Projekte haben große Vorteile, weil sie auch eine Belebung der Erdgeschoßzone bewirken.“

Gemeinschaftliches Wohnen nicht bloß auf das Haus zu beschränken, sondern darüber hinaus auch in die unmittelbare Umgebung auszustrahlen ist das, worauf die Stadtplanung setzt.
Immer wieder sind in Großstädten bestimmte Stadtviertel zu identifizieren, die einen überproportionalen Anteil dazu beitragen, dass soziales Leben gedeiht, kulturelles Leben floriert und deshalb Publikum anzieht. So entsteht neuer urbaner Raum, in dem sich Nahversorgung, Einzelhandel und Handwerksbetriebe niederlassen und erfolgreich etablieren.

Die Stadt als Ort der Integration

Für den Architekten Vittorio Lampugnani gilt, dass eine gute Stadt nicht nur eine Stadt für Reiche und nicht nur eine Stadt für Arme ist, sondern die unterschiedlichen Bevölkerungsschichten miteinander verbunden sein sollen. „Die Stadt war immer, wenn sie funktioniert hat, ein ganz starker Ort der Integration. Die Stadt war integrativer als das Dorf, integrativer als das Land. Und das sollte sie auch bleiben.“

Fazit: Partizipatives Bauen

Um mit dem deutschen Architekturkritiker Hanno Rauterberg, mit dem ich meinen Blog zum Thema „Partizipatives Bauen“ begonnen habe, zu schließen: „Die Digitalmoderne könnte eine Form von Öffentlichkeit hervorbringen, die auf wolkige, hybride Weise das eine ermöglicht, ohne das andere zu unterbinden.

So wie viele andere Gegensätze – zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, zwischen Nähe und Ferne, zwischen Stadt und Land – dürfte sich auch dieser auflösen. Zugunsten einer Stadt, in der die Einheit in Vielheit, dieser alte Traum, nicht länger ein Traum sein muss. Die Stadt wäre eine res publica, und das hieße für ihre BewohnerInnen: Gemeinsame Sache machen und zusammen verändern, was verändert werden muss.“

Die gesamte Recherche über zehn partizipative Wohnprojekte in Wien finden Sie hier: „Stadt der Zukunft – über partizipatives Bauen“ – Dokumentation einer Gesprächsreihe

Wenn Sie das Buch in der gedruckten Version erhalten wollen, können Sie es hier bestellen: Bestellformular.

Michael-Kerbler

Michael Kerbler

Publizist ORF Chefredakteur

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