Die Mobilität so ändern, dass die Lebensqualität steigt

14.09.2021
Trends

Electric_Car_recharging

Stefan Carsten ist Zukunftsforscher. In seinem aktuellen „Mobility Report“ nimmt er die wichtigsten Trends der Mobilität unter die Lupe. So sieht er die neuen Dienste der Multimodalität und des (mittlerweile weit über die Stadtgrenzen hinaus erfolgreichen) Sharings in einer Konsolidierungsphase. Gleichzeitig vollziehe die Automobilindustrie (weil die Batterie längst gegen den Verbrenner gewonnen hat) die radikalste Transformation seit Jahrzehnten, sagt er.

Der Trend zur so genannten „Frontdoor Mobility“ wiederum ebne den Weg zu einem neuen Raum- und Mobilitätsverständnis, das an der Haustür beginnt – und längst nicht dort endet. Im gleichen Ausmaß, in dem die Konnektivität aber steigt, wird der ineffizienteste urbane Raum immer weiter reduziert: der Parkplatz.

 

Im Interview verrät er, wie man Mobilität neu denken und Städte umbauen muss, damit sie sich im Attraktivitätswettbewerb behaupten und welche Innovations- und Erneuerungsstrategien es braucht, damit genau die Lebensräume entstehen, die wir Menschen auch tatsächlich brauchen.

 

Zukunftsforscher Stefan Carsten (c) Lukas Galantay
Zukunftsforscher Stefan Carsten (c) Lukas Galantay

Sie sind Verfasser des soeben erschienenen Mobility Reports 2022, der sich mit der Zukunft der Mobilität auseinandersetzt. Können Sie einen kleinen Überblick geben?

In diesem Jahr besonders wichtig ist das Thema Elektromobilität. Dass die Batterie gegen den Verbrenner gewonnen hat, daran müssten sich spätestens jetzt eigentlich alle gewöhnt und ihre Strategie entsprechend umgestellt haben. Ein Automobilhersteller nach dem anderen kippt um und sagt, er werde Verbrenner nur noch bis 2030 oder 2035 bauen.

Dass unsere Zukunft nicht mehr im Diesel oder Benzin liegt, ist mittlerweile also jedem klar. Jetzt müssen wir alles dafür tun, damit dieser Übergang so schnell wie möglich von statten geht, denn die Luftqualität in den Städten ist katastrophal. Die Lebensqualität wird durch Autos massiv eingeschränkt.

 

Wieso sind die beharrenden Kräfte so groß?

in jedem der Automobilkonzerne gibt es zigtausende Kompetenzen und Fachkräfte für Diesel und Benzin. Das sind Menschen, die von einem Tag auf den anderen relativ wenig zu tun haben werden, wenn man das radikal umgestaltet. Dass große Organisationen eine gewisse Zeit brauchen, um sich anzupassen, ist also verständlich.

Das ist auch zum Schutz der Arbeitnehmer. Ansonsten sehe ich die Angst vor Veränderung – sei es beim digitalen Impfpass oder der Umstellung der Mobilität, oder dass wir die Straßen zum Wohle von Fahrradfahrern und Fußgängern zurückbauen. Es herrscht immer noch der Glaube, wir befänden uns im Wohlstand und alles was wir verändern, könnte diesen Wohlstand abschaffen.

Dabei ist es genau umgekehrt: Wir schaffen es nicht, diesen Wohlstand in den nächsten zu überführen, weil wir immer noch im Gestern leben. Deshalb brauchen wir dringend eine Innovations- und Erneuerungsstrategie, wie wir den Wohlstand auf eine neue Basis stellen.

 

Die von Ihnen angesprochene E-Mobilität ist nur ein Teil dieser Strategie?

Genau. Die Mobilität verändert sich, die Städte verändern sich. Der Soziologe Andreas Reckwitz sagt, die Städte befinden sich in einem Attraktivitätswettbewerb. Es gibt Städte wie Paris und Mailand, die das 1:1 verstanden haben und ihre Städte umbauen.

 

Was haben Paris, Mailand oder Sidney einer Stadt wie Hamburg voraus?

Das sind Städte, die keine industrielle Basis haben, sondern in der wissensbasierten Gesellschaft angekommen sind. Eine wissensbasierte Gesellschaft braucht keine drei, vier Spuren für Autos, sondern attraktive Lebensräume, leise und gesund. Es muss möglich sein, dass ich mit meinem Telefon herumlaufen und an Interviews oder Forschungspräsentationen teilnehmen kann. Das ist in einer industriell geprägten Stadt nicht möglich.

Allmählich setzt sich das Verständnis dafür durch, dass die Industrialisierung immer schwächer und weniger bedeutsam wird und andere Kriterien und Standortvorteile notwendig sind, um eine Stadt erfolgreich in die Zukunft zu führen. In Deutschland glaubt man immer noch, dass wir morgens die hauptsächlich männlichen Arbeitnehmer zur Fabrik transportieren müssen und abends wieder nach Hause.

Ein wichtiger Trend in der E-Mobility ist, dass wir weibliche Bedürfnisse in der Stadtplanung und Mobilität stärker berücksichtigen müssen als das in der Vergangenheit der Fall war.

 

Können Sie das präzisieren?

Frauen haben Angst im öffentlichen Personennahverkehr (OEPNV). Frauen haben Angst, wenn sie abends durch die Städte radeln. Car-Sharing ist für sie nicht besonders attraktiv, weil die Benutzeroberflächen nach wie vor viel zu komplex sind. Wir brauchen Konzepte, die mehr auf Nahräumlichkeiten und Nachbarschaften ausgelegt sind, statt in großen monofunktionalen Dimensionen zu denken.

 

Wie lange wird es dauern, bis wir die Corona-bedingte Skepsis gegenüber öffentlichen Verkehrsmitteln überwunden haben?

Nach der spanischen Grippe waren die Züge nach ungefähr drei Jahren wieder voll. Es wird dieses Mal schneller gehen, weil wir den OEPNV brauchen. Es gibt schon ein Bewusstsein, wonach man vorher die Belegquote checkt, bevor man sich einen Zug bucht. Ist er stark ausgelastet, nimmt man halt den früheren oder späteren.

Aber die Menschen werden zu ihrem alten Nutzerverhalten zurückkehren, da bin ich mir sicher. Aber der OEPNV muss seine Attraktivität weiter steigern. In Wien gibt es das 360 Euro-Ticket, mit dem man den OEPNV ein Jahr lang unbeschränkt nutzen kann. Ich gehe davon aus, dass ähnliches auch in Deutschland bald umgesetzt wird. Wir werden auch Experimente eines stellenweise entgeltfreien OEPNVs erleben.

In Augsburg gibt es ein phantastisches neues multimodales  Angebot, das bei OEPNV anfängt und bis zu integriertem Bike- und Carsharing geht. Genau in solche Pakete muss sich der OEPNV viel stärker integrieren.

 

Keine andere Art der Fortbewegung verbrennt so viel Energie wie das Fliegen. Mit 11,8 Milliarden Euro wurde der Luftverkehrssektor in Deutschland alleine im Jahr 2016 subventioniert, indem Kerosin von der Energiesteuer und internationale Flüge von der Mehrwertsteuer befreit werden. Muss sich das nicht ändern?

Das wird sich ändern. Im Sommer nach Corona sind die Flieger zwar ausgebucht, weil die Lust auf Ferne explodiert, und ich verstehe das nur zu gut, weil ich selbst ja auch raus will. Aber ich erkenne bei vielen Menschen das Bedürfnis, auf das Flugzeug zu verzichten.

Die CO2-Zertifikate werden das Flugzeug schon bald stärker berücksichtigen. Alle Akteure arbeiten an abgasärmeren Modellen, und auch die Politik überlegt: Brauchen wir überhaupt eine Flugverbindung von Hamburg nach Köln oder Frankfurt, wo wir doch ein gutes ICE-Angebot dort haben? In Frankreich werden solche Strecken schon verboten. Ähnliches werden wir in Deutschland nach der Wahl auch in der öffentlichen Diskussion haben.

 

Reicht es dafür aus Ihrer Sicht, ans Bewusstsein zu appellieren?

Nein. Wir appellieren seit Jahrzehnten an das Bewusstsein. Und das Umweltbewusstsein ist ja auch hoch, aber das Umweltverhalten niedrig. Wir müssen die Kosten für solche Strecken empfindlich erhöhen oder solche Strecken überhaupt abschaffen. Da ist die Politik gefordert.

In Städten regelt die Politik das ja auch, indem es Durchfahrtsverbote für bestimmte Quartiere und eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h gibt und der öffentliche Parkraum zurückgebaut wird, um Fahrradständer und Kinderspielplätze zu bauen oder Bäume zu pflanzen. Ich sehe die Politik in der Verantwortung, unser Verhalten so zu regulieren, dass wir in Zeiten des Klimawandels überhaupt noch eine Zukunft haben.

 

In der E-Mobilität gilt Norwegen das Maß aller Dinge. Jetzt könnte man zynisch sagen: Wenn einen fossile Brennstoffe reich machen – 2018 wurden in Norwegen rund 84 Millionen Tonnen Erdöl gefördert – kann man sich das auch leisten…

Jedes Jahr sterben auf der Welt 9 Millionen Menschen aufgrund schlechter Luftqualität. Vor allem in Städten. Die Lebenserwartung von Menschen, die an einer lauten, großen Straße leben, ist zwischen drei und vier Jahren kürzer. Wir bewegen uns in eine Zukunft, wo 35, 40 Grad im Sommer alltäglich sein werden, was eine außergewöhnlich hohe gesundheitliche Belastung für ältere Menschen bedeutet.

 

Mobilität ändern, Lebensqualität steigern
Bergformation Sieben Schwestern in Norwegen

 

Wir müssen umstellen und wir müssen die Umstellung politisch fördern. Ich bin den Norwegern sehr dankbar dafür, dass sie gezeigt haben, wie es geht, dass ein Land nahezu abgasfrei wird. Viele Länder haben den Ausstieg aus der Verbrennertechnologie schon beschlossen: Norwegen, Großbritannien und Frankreich etwa.

Deutschland nicht, weil sich die Autolobby immer noch dagegenstemmt. Aber einzelne Akteure wie Audi, VW und Smart setzen auf die E-Mobilität. Da geht ein Transformationsprozess vonstatten, den wir unbedingt brauchen.

 

Sie haben mehrfach gesagt, es brauche positive Bilder des Wandels? Norwegen ist so eines. Welche gibt es noch?

Das schönste Beispiel ist Paris, eine autoverrückte Stadt mit allen negativen Begleiterscheinungen. Da hat die Bürgermeisterin Anne Hidalgo gesagt: „Ich will diese Strukturen ändern. Autos sollen in der Zukunft nicht mehr die Bedeutung haben, die sie heute haben. In jeder Straße wird ein Fahrradweg installiert, 70.000-80.000 Parkplätze werden rückgebaut.

 

Mobilität ändern, Lebensqualität steigern
Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris

 

Wir brauchen Dezentralität und Multifunktionalität, d.h. jeder soll in 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad jede urbane Funktion, Bildungsstätten, Gesundheitsversorgung, Grünfläche, Einkaufs- und Sportmöglichkeiten etc. erreichen können. Um genau das durchzusetzen, wurde eine staatliche Agentur gegründet. Wenn dieser Transformationsprozess abgeschlossen ist, wird Paris eine ganz andere Stadt sein, und ich bin mir sicher, dass jeder Pariser und jede Pariserin sehr glücklich sein wird in dieser Stadt.

 

Stefan Carsten ist Zukunftsforscher und Stadtgeograf. In seiner Arbeit kombiniert er die Themenfelder Zukunft, Stadt und Mobilität. Die Zukunft ist dabei Perspektive und Methode, um gegenwärtige Stadt-, Mobilitäts- und Lebenswelten zu hinterfragen und aufzudecken. Ziel ist es, mit Hilfe von Zukunftsforschung und -beratung eine bessere, weil zukunftsfähige Gesellschaft zu gestalten.

 

Fazit:

  • Mittlerweile sei wohl jedem klar, sagt Stefan Carsten, dass unsere mobile Zukunft nicht mehr im Diesel oder Benzin liegt. Man müsse sich nur die katastrophale Luftqualität in den Städten anschauen. Die gesamte Lebensqualität werde dort durch Autos massiv eingeschränkt. Es brauche daher dringend eine Innovations- und Erneuerungsstrategie, wie man den Wohlstand auf eine neue Basis stellen kann.
  • Städte befinden sich in einem Attraktivitätswettbewerb. Es gibt Städte wie Paris und Mailand, die das 1:1 verstanden hätten und ihre Städte umbauen, so Carsten. Denn: Eine wissensbasierte Gesellschaft braucht keine drei, vier Spuren für Autos, sondern attraktive Lebensräume. Deshalb brauche es Konzepte, die mehr auf Nahräumlichkeiten und Nachbarschaften ausgelegt sind als in großen monofunktionalen Dimensionen zu denken.
  • Die mobile Zukunft sieht Carsten in multimodalen Angebotspaketen mit integriertem Bike- und Carsharing. Aber auch Verbote brauche es, etwa wenn es um vermeidbare Kurzstreckenflüge geht. Hier sieht Carsten die Politik in der Verantwortung, unser Verhalten so zu regulieren, „dass wir in Zeiten des Klimawandels überhaupt noch eine Zukunft haben.“
  • Als Vorbild in Sachen Mobilität sieht er Norwegen, das gezeigt habe, wie es gehen kann, dass ein Land nahezu abgasfrei wird.
  • Als Vorbild für positive städtische Transformationsprozesse nennt er Paris. Dort habe es die Bürgermeisterin, so Carsten, verstanden, dass es Dezentralität und Multifunktionalität braucht. Das Ziel: Jeder soll in 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad jede urbane Funktion, Bildungsstätten, Gesundheitsversorgung, Grünfläche, Einkaufs- und Sportmöglichkeiten etc. erreichen können. Um den dafür notwendigen Transformationsprozess durchzusetzen, wurde eine staatliche Agentur gegründet, die u.a. in jeder Straße einen Fahrradweg installieren und 70.000-80.000 Parkplätze rückbauen lässt. Wenn dieser Transformationsprozess abgeschlossen ist, wird Paris eine ganz andere, eine ungleich lebenswertere Stadt sein, so Carsten.

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