Wie werden Klein- und Mittelstädte jünger & lebendiger? 10 Ideen für zukunftsfähige Stadtzentren und die Verjüngung der Städte – erst recht nach Corona.
Wieder jünger werden: Kaum eine Klein- oder Mittelstadt, die diesen Anspruch nicht für sich formuliert. Diese 10 Punkte können eine Verjüngung dieser Städte fördern – erst recht nach Corona.
1. Vielfalt
Die reine Kauflogik, nach der Innenstädte in den 60ern entwickelt wurden, war schon vor der Corona-Krise am absteigenden Ast. Doch „die Abwanderung ganzer Käuferschichten in Richtung Onlinehandel hat sich durch die Lockdowns exponentiell beschleunigt. Europaweit drohen ganze Stadtzentren zu veröden“, warnt Timo Brehme, Chef des Münchner Beratungs- und Architekturunternehmens CSMM.
Gleichzeitig sei jetzt die Zeit, den Umbruch multifunktional und unter nachhaltigeren Vorzeichen zu gestalten. Denn in den alten Strukturen steckt noch genug Energie für ein zweites, lebendigeres Leben.
Brehme sieht in der Rückkehr von Handwerk, Produktion, Wohnen und Bildung einen Schlüssel für die multifunktionale und zukunftsfitte Stadt. Mehr Vielfalt mache Städte nicht nur resilienter, die Verankerung von Einrichtungen wie Universitäten und Krankenhäusern belebe die Innenstädte zudem maßgeblich.
2. Bildung
Wenn Bildungseinrichtungen aller Levels ins Zentrum geholt werden, bewegen sich automatisch mehr junge Menschen in der Stadt. Zukunftsforscher Andreas Reiter sagte schon hier: „Was spricht dagegen, in der Innenstadt verstreut kleine Campi und Mini-Institute anzusiedeln anstatt einer großen Alma Mater am Stadtrand?“
Für junge Familien wiederum war schon vor der Coronakrise die Versorgung mit Krabbelstuben, Kindergärten und Schulen direkt am Wohnort ein wesentliches Kriterium für eine Ansiedelung. Durch die Etablierung von Homeoffice in den letzten Monaten wiegen Bildungs- und Betreuungsstätten für die Kinder mittlerweile beinah schwerer als der Job-Ort in der Frage, wo man als Familie leben will.
Das kann für Dörfer am Land ebenso gelten wie für Innenstädte. Bildungseinrichtungen von der Krabbelstube über die Musikschule bis zum universitären Institut können auch Stadtzentren nachhaltig beleben.
3. Wohnen
„Jüngere Menschen haben nicht nur andere Vorstellungen von Wohnen, es fehlt ihnen auch das nötige Geld für ein Einfamilienhaus, weil die Grundstücks- und Baupreise sehr gestiegen sind. Und im sozialen Wohnbau bieten sich meist nur „Hühnerstall-ähnliche Wohnanlagen“ am Stadtrand an. Deshalb braucht es dringend Alternativen und neue Formen des gemeinschaftlichen Wohnens“, sagt Roland Gruber von nonconform.
Damit meint er qualitätsvolles und generationenübergreifendes Zusammenleben – mit Gemeinschaftsräumen, einem großen Garten und der Möglichkeit, die Kinderbetreuung aufzuteilen. „So ähnlich, wie das früher auf großen Bauernhöfen funktioniert hat“, sagt Gruber, sozusagen „Bauernhof reloaded, nur ohne schwerer körperlicher Arbeit“.
Einem solchen Projekt namens „B.R.O.T. Pressbaum“ in Niederösterreich hat er mit nonconform auf den Weg geholfen: Eine Wohnsiedlung aus zehn Holzhäusern, deren Bewohner sich ein multifunktionales Gemeinschaftshaus (mit Küche, Spieleecke, Musikraum oder Bibliothek) genauso teilen wie einen Co-Working-Space, Schwimmteich, Spiel- und Sportplatz und einen gemeinsamen Naturgarten. Die Anlage wurde von den Bewohnern in einem Prozess gemeinsam entwickelt und geplant, ist ein offener Lebensraum für Menschen – und kommt gänzlich ohne Zäune aus.
Co-Living im Stadtzentrum
Anderes Beispiel: Ein Co-Living-Konzept für temporäres Wohnen in der Innenstadt, das von der Viertelagentur in Klagenfurt erarbeitet wurde. Es verspricht durch gebäudeübergreifende, dezentrale Nutzung mehr Leben in leerstehenden Bestandsbauten – und somit im Stadtzentrum.
Die Idee ist WG-Feeling mit Mehrwert. Auch beim Co-Living teilen sich Studierende, Freelancer oder Selbstständige die Wohnungen, ein- und ausziehen soll flexibel gehandhabt werden. Zusätzlich stehen aber auch Gemeinschaftsräume im Stadtviertel verstreut bereit, zB ein Gym, Work-Spaces, Lounges, Wasch-Bars etc. Die Umsetzung der ersten Wohneinheit ist noch für heuer geplant.
„Co-Living bietet für Bewohner sowohl einen sozialen Benefit als auch ökonomische und ökologische Vorteile“, sagt Bea Bednar von der Viertelagentur. Die Innenstadt würde mit jungen Menschen belebt und durch die Integration von Bestandsbauten ein nachhaltiger Umgang mit Ressourcen gestärkt.
4. Partizipation
Traditionell werden junge Menschen und ihre Ansprüche an eine Stadt in der Stadt- und Raumplanung kaum berücksichtigt. An diesem Punkt setzte beispielsweise ein Forschungsprojekt in Deutschland namens „Jugend.Stadt.Labor“ an, dessen Succus als Download-PDF hier zur Verfügung steht.
„In den Jugend.Stadt.Laboren wurden Konzepte entwickelt, mit denen Branchen, Leerstände, Quartiere und Regionen angeeignet und für junge Menschen nutzbar gemacht werden. Dabei entstanden Räume, die ein bewusstes Miteinander fördern und eine Stärkung der Stadt, der Kommunen und der Region ermöglichen“, heißt es in der Publikation.
So sind im Rahmen von Jugend.Stadt.Labor Demokratieprojekte gegen den Rechtsruck, die Erschließung neuer Räume für Kultur, Sport und Begegnung, die Implementierung von Repair-Cafés, partizipative Fahrradwerkstätten, Zwischennutzung von Leerständen uvm entstanden.
„Diese Publikation zeigt das große Potenzial und die schier unendliche Kreativität von jungen Menschen, die Gehör, Ressourcen und Anerkennung erhalten“, schließt Projekt-Rezensentin Dagmar Baumgartner.
5. Vernetzung
Wo Junge sind, kommen Junge hinzu. Dafür braucht’s Informationsdrehscheiben und Kommunikationsplattformen, mittels derer sich junge Menschen vernetzen können. So ist das beispielsweise im Projekt „Junge Stadt Weiz“ passiert. „Unsere Kanäle auf Social Media spielen eine große Rolle dabei, weil die jungen Leute dort alle relevanten Infos finden. Wir bilden nicht nur ab, was wir im Projekt machen, sondern auch was rundum für die Zielgruppe interessant ist“, erzählt Projektleiter Julian Macher.
Wichtig auch: Die Plattformen werden auf Augenhöhe, von Jungen für Junge, gemacht – und diese werden von der Stadt auch für die Kommunikationsarbeit bezahlt.
In anderen Städten entwickelten sich junge, stadtbezogene Kommunikationsdrehscheiben aus der jungen Agenturszene heraus, etwa mit Fräulein Flora in Salzburg und Linz oder mit ImSüden in Klagenfurt.
6. Konsum
Stangenware und Konzernketten locken junge Menschen kaum mehr zum Einkaufen in die Stadt. Junge Konsumenten kaufen aber schon vor Ort, wenn die Attribute umweltbewusst, lokal und unabhängig stimmen.
Das ergab eine aktuellen Studie von „Shopify“, die globale Daten von Verbrauchern und Händlern aus elf Märkten miteinander verbindet. Demnach gaben 59 Prozent der 18- bis 34-Jährigen an, beim stationären Konsum vor allem auf nachhaltige Produkte zu setzen.
Wichtig ist auch die geeignete Ansprache der jungen Konsumenten: Die jüngeren Verbraucher werden eher über die Sozialen Medien auf unabhängige Händler aufmerksam (zu 48 Prozent).
Jung, hip, nachhaltig soll es also sein. Von der Waffel-Station bis zum Craftbeer-Shop, vom Radl-Doktor bis zu Upcycling-Möbel, dieser Konsumtrend kann jenseits der jungen Zielgruppen auch die Kreislaufwirtschaft sowie das regionale Handwerk und die Belebung der Zentren befeuern. Ein Zukunftsfeld!
7. Büro
Die Etablierung von Remote-Work als Normalfall macht das Wohnen in Kleinstädten für jüngere Menschen wieder attraktiver. Mit schnellem Internet lassen sich Projekte in aller Welt abwickeln, ganz easy vom Schreibtisch im Homeoffice aus.
Allerdings: „Räumlich ist das Dauer-Homeoffice in den eigenen vier Wänden oft schlecht umsetzbar. Darüber hinaus arbeiten viele alleine und verlieren dadurch einen großen Teil ihrer täglichen sozialen Kontakte“, sagt Roland Gruber.
Eine Lösung sind Desk-Sharing-Konzepte in Co-Working-Spaces, genannt „Public Home Office“. Gruber: „Aufbauend auf dem Konzept der Co-Working-Spaces, die ja vorwiegend für Selbstständige konzipiert sind, können Personen, die üblicherweise jeden Arbeitstag ins Büro am Unternehmensstandort fahren, Co-Working-Räume in der Nähe des eigenen Wohnorts nutzen, um in einem geteilten Homeoffice zu arbeiten.“
So käme es wieder zu einer stärkeren Bindung an den eigenen Ort, wo man Nahversorge und Gastronomie nutzt.
Flexibleres Co-Working
Hochflexibles Co-Working wird bei Coworking Salzburg bereits lange gelebt. „Einen Teil unserer Plätze bieten wir sehr flexibel an, man kann sich auch nur einen Tag einmieten“, erzählt Romy Sigl, die Gründerin des 45 Plätze umfassenden Co-Working-Space.
Dank strenger Abstands- und Testregeln hat die Frequenz auch in den letzten Monaten nicht gelitten. Zudem hat Sigl noch mehr fixe Plätze vermieten können im Coronajahr – wohl auch eine Folge der Homeoffice-Flucht.
Ähnliches beobachtet Denise Gstättner von der Hafenstadt Urban Area in Klagenfurt, die ebenfalls Co-Workingplätze anbietet: „Co-Working nimmt weiter Fahrt auf. Nach einer Delle nach dem ersten Lockdown sind wir jetzt schon wieder fast voll.“
8. Freizeit/Freiraum
Vor allem die dritte Coronawelle hat’s – zum Beispiel in Wien – klar gezeigt: Junge brauchen die Stadt, auch wenn dort kaum Konsum möglich ist. Die Parks, die Uferländen, die großen Plätze, junge Menschen suchen Kommunikationszonen in der Stadt. Andreas Reiter sagt: „Ihnen geht es vor allem ums Socializing in der Stadt.“
Insofern braucht es adäquate urbane Wohnzimmer ohne Konsumzwang, wo man quatschen, bewegen, sich vernetzen kann. Fitness-Spots wie Calisthenics- oder Skateparks und -hallen, Beachvolleyballplätze, freie Graffitiwände, abgeschlossene Begegnungszonen wie das Museumsquartier.
Im deutschen „Jugendforum Stadtentwicklung“ aus 2017 wurde u.a. klar: „Zum Ausruhen und Erholen wünschen die Teilnehmenden sich mehr Sitzgelegenheiten und Grünflächen, die in der Stadt beispielsweise auch auf Dächern entstehen können. Gleichzeitig kann von dort die Aussicht genossen werden.
Räume? Ja bitte!
Zudem gab’s den großen „Wunsch nach der Bereitstellung von Brachflächen ohne Zweck und Nutzen, in denen junge Menschen kreativ experimentieren möchten.“ Freier Raum zum einfach Machen. Auch Julian Macher von der Jungen Stadt Weiz hat damit gute Erfahrungen, „wir bieten jungen Bands Proberäume an und können so die junge Kulturszene unserer Stadt fördern.“
Ein weiteres bewährtes Beispiel sind die österreichweit verstreuten OTELOs – für: Offene Technologielabore. Das sind Gemeinschaftsräume, die einladen, Ideen und Visionen miteinander zu teilen und zu verwirklichen. Sie bieten Menschen, unabhängig von Alter, Herkunft oder Zugehörigkeit, freien Raum, in dem Offenheit und das Teilen von Wissen und Erfahrungen im Vordergrund stehen.
9. Verkehr
Sharing-Mobilität vom Scooter bis zum E-Auto, ein durchgängiges Radwegenetz, Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, diese Aspekte werden schließlich bei junger Mobilität gerne genannt.
Manchmal helfen aber auch kleine, auf die Stadt maßgeschneiderte Mobilitätsangebote, um sie ein Stück weit attraktiver für Jüngere zu machen. In Weiz beispielsweise, nur 45 Busminuten von der Studentenstadt Graz entfernt, bekommen junge Menschen das Ganzjahres-Top-Ticket für alle steirischen Verbundlinien (Bus/Bahn/Bim) zu 25 Prozent von der Stadt gefördert.
Julian Macher: „Das hat schon einige Studenten motivert zu pendeln anstatt in Graz zu wohnen. Weil es sich dann auszahlt, ein Weizer zu bleiben.“
10. Migration
Der Zusammenhang ist überdeutlich: Die 2020 beiden altersmäßig jüngsten Bundesländer Österreichs – Wien und Vorarlberg – haben jeweils auch die beiden höchsten Anteile an Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Wien ist weit vorn mit einem Anteil von 45,9 Prozent, dahinter kommt Vorarlberg mit 26,6 Prozent.
Eine negative Migrationsbilanz beschleunigt den Prozess der Bevölkerungsalterung. Wo Zuwanderung schon lange im großen Stil passiert, ist Integration und somit die Verjüngung der Städte bereits ein Fakt. Schweizer Städte wie Zürich, Basel oder Genf beweisen dies, sie werden immer jünger und durchmischter, zugleich steigt die Lebensqualität.
Fazit
Die Corona-Krise droht Innenstädte zu veröden. Dieses Vakuum ergibt also Chance auf eine neue, jüngere Belebung von Klein- und Mittelstädten. Mit einem Maßnahmenpaket für verschiedene Lebensbereiche lassen sich Stadtzentren wieder für junge Bevölkerungsgruppen – vom Kleinkind über Teenager, von der Studentin bis zum Jungvater – attraktivieren.
Dazu braucht es einen Paradigmenwechsel in der Art, Stadt zu leben: Stärkere Einbindung der jungen Zielgruppen und ihrer Bedürfnisse, neue Förderkulissen, viel Querdenken und den Mut, die alten, eingetretenen Pfade zu verlassen.
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