von Norbert Philipp (Die Presse)
Starr stehen nur die Städte. Ihre Bewohner, Nutzungen und Funktionen kommen und gehen. Und die Stadtentwickler arbeiten daran, sie zu konzentrieren, zu mischen und sinnvoll zu verteilen.
Irgendwann wollten die Menschen den Ressourcen einfach nicht mehr nachlaufen. Und begannen, sesshaft zu werden. Dort, wo die Erde Nachschub spendete. Oder dort, wo die Menschen selbst per Ackerbau oder Viehzucht dafür sorgten. Tausende Jahre später laufen die Menschen wieder den Ressourcen nach. In die Städte, wo Wirtschaftsmotoren mit hoher Drehzahl Arbeitsplätze und Lebensqualität verheißen. Die Städte bleiben, wo sie sind. Und die besonders unflexiblen unter ihnen werden die Archäologen in ein paar hundert Jahren wieder ausgraben. Vor allem jene, die ungerührt zuschauen, wie rund um sie die Veränderungen wirbeln, die wirtschaftlichen, technologischen und sozialen.
Gebäude und Strukturen leeren sich, bis sie veröden. Und füllen sich andernorts wieder, solange, bis sie verstopfen. Denn manche Städte lassen sich noch immer überraschen, wenn plötzlich neue Bewohner aus der ganzen Welt ihre zweite Heimat ausgerechnet in ihren Gemeindegrenzen suchen. Doch hier wie dort blitzen auch Gedanken auf, die man früher noch sofort verdrängte: Wie etwa, dass Wachstum in der Stadtentwicklung nicht immer die einzig denkbare Richtung ist.
Kleiner werden, aber oho!
In Würde schrumpfen – vielen Orten bleibt ohnehin nichts anderes übrig. Eisenerz in der Obersteiermark etwa. „Zu sagen, die Stadt könnte man einwohnermäßig stabilisieren, das wäre von Planerseite fahrlässig“, meint Raumplaner Günther Tischler. Der Sog der Kernregionen, Graz vor allem, ist zu stark. Und der Erzberg ist zu schwach. Obwohl er noch genauso viel Erz abwirft wie vor 40 Jahren. Doch statt mit 3500 Arbeitsplätzen versorgt er die Stadt nur noch mit knapp 200. Aber auch Gemeinden wie Murau oder Mürzzuschlag spüren, wie kräftig in den Zentralräumen die Wirtschaftsmotoren kurbeln.
Diese Anziehungskraft reißt zwei Problemfelder gleichzeitig auf: Dort, wo die Menschen gehen. Und dort, wo sie landen. Im Süden von Graz etwa. „Das ist jetzt schon eines der am meisten zersiedelten Gebiete Mitteleuropas“, stellt Soziologe Rainer Rosegger fest. In den Gemeinden, die der jüngeren Bevölkerung sentimental nachwinken, bekommt Raumplaner Tischler hingegen solche Sätze zu hören: „Wir wollen nicht die Indianerreservate für die Grazer werden“. Doch gehen und los lassen kann durchaus eine sinnvolle Strategie sein. „Abwanderung wird ja generell negativ gesehen“, sagt Tischler. Doch ein „Rückbau kann ja auch eine neue Qualität erzeugen“. Schrumpfen negativ, Wachsen positiv – von dieser Vorstellung müssen sich die Gemeinden trennen, so Tischler.
Was bleibt, wenn alle gehen, sind Quadratmeter ohne Sinn und Inhalt sowie hohe Kosten in der Erhaltung. Aber auch so manche Einstellung scheint stärker verwurzelt zu sein als die Einwohner selbst. In Eisenerz hatten Eigeninitiative und Selbstorganisation nie die Chance, Teil der Stadtkultur zu werden. Zu übermächtig war der Erzberg, der die Menschen mit allem versorgte, was sie brauchten. Als seine Macht bröckelte, kamen die Soziologen, Urbanisten, Architekten. Sie skizzierten Zukunftsszenarien und Nachnutzungsstrategien, etwa im Projekt „Re-Design Eisenerz“.
Und schließlich kamen auch wieder Eisenerzer zurück. Zwar nur temporär, dafür mit Engagement und neuen Ideen. Wie Gerhild Illmaier etwa, die mit „eisenerZ*ART“ versucht, der Stadt sanft Kultur zu injizieren, in einer Form, wie sie die Stadt bislang nicht kannte. Allmählich zeigen sich Effekte: „Wir haben es inzwischen geschafft, die Eisenerzer wieder zu aktivieren, bewusst oder unbewusst, damit sie sich wieder selbst einbringen und verantwortlich fühlen“, erklärt Bürgermeisterin Christine Holzweber. Manche beginnen, im Topf der städtischen Stärken und Potenziale zu wühlen. Und ziehen neue Konzepte heraus: wie etwa „Designing Craft“, für das Gerhard Tiffner vom Verein „Steirische Eisenstraße“ gerade die Einreichunterlagen für ein mögliches EU-Projekt zusammenschnürt. Darin sollen europäische Bergbaustädte einmal etwas anderes fördern als Kohle oder Erz, nämlich die eigenen Kompetenzen indem sie traditionelle Handwerkskunst in Projekten mit zeitgemäßem Design verbinden.
Verteilungsproblem
Die meisten Städten allerdings müssen lernen, mit einer anderen Bewegung umzugehen, mit dem Wachsen. Oder Wuchern. Dazu gehört auch, die Ströme, die auf die Stadt einfließen, richtig zu lenken und zu kanalisieren. Für den Norden Wiens prognostiziert die Österreichische Raumordnungskonferenz (ÖROK) etwa einen Bevölkerungszuwachs von 25 Prozent bis zum Jahr 2030. Das Problem: „Schon heute gibt es nördlich der Donau viel zu wenig Arbeitsplätze“, meint Christof Schremmer vom Österreichischen Institut für Raumplanung (ÖIR). Die Folge kann man täglich in den Verkehrsmeldungen mitverfolgen: Denn der Weg zur Arbeit führt quer durch die Stadtagglomeration.
Auf dem Weg vom Zentrum Richtung Stadtrand kommen sich nicht nur die Autos entgegen, sondern auch zwei maßgebliche Trends: „Zwei hauptsächliche Bewegungen sind zu beobachten“, sagt Rainer Rosegger. Der eine Pfeil führt noch immer zur erträumten, privaten Glücksinsel hinter der Stadtgrenze und hinterm Gartenzaun. Der andere zeigt Richtung Zentrum, und nicht wenige Familien folgen ihm bereits, ein Trend, den die Fachliteratur mit „Reurbanisierung“ überschreibt. Zurück bleiben Häuser, die ästhetisch und baulich nicht verleugnen können, dass sie zumeist zwischen 1970 und 1990 entstanden sind. Auf durchschnittlich 1000 Quadratmeter großen Grundstücken, wie Rosegger in einer Studie feststellte. Ein privater Luxus, der einsam macht. Schließlich wohnt in den meisten Häusern nur noch eine Person.
Die Häuser müssen sich verändern, so viel steht fest. Höher werden, das könnte ein guter Anfang sein, um Menschen und Aufgaben in Gebäuden zu sammeln, statt willkürlich zu streuen. Auch auf dem Land, wo bislang alles, was mehr als zwei Geschoße hatte, noch sozial stigmatisiert ist, wie Dieter Spath vom Architekturbüro Arquitectos erzählt. Gemeinsam mit Heidi Pretterhofer hat er sich ein hypothetisches Verdichtungsszenario ausgedacht. „Silograd“ nennen sie es. Denn rund um Wien stehen knapp 130 Getreidesilos als weit sichtbare Landmarks einer vormals agrarischen Region. Sie könnten zu Konzentrationspunkten werden, an denen sich die Ortschaften baulich verdichten, schließlich ist meist auch die Bahnlinie nach Wien nicht weit.
In den Städten selbst könnte ein traditionell ländliches Baumaterial beim Wachsen helfen, in die Höhe natürlich: Das Forschungsprojekt „Lifecycle-Tower“, ein Holzbau mit acht Geschossen, darf bald erstmals in Dornbirn demonstrieren, dass Holz, Höhe und Stadt durchaus zusammenpassen. In den „Hyper“-Buildings, die sich Brian Cody von der TU Graz gemeinsam mit seinen Studenten ausgedacht hat, bündeln sich gleich noch viel mehr Ideen: In ihnen soll übereinander alles Platz finden, „was eine Gesellschaft braucht“, sagt Cody. Von der Agrarproduktion bis zur Industrie.
Anpassungsfähig
Manche Städte bemühen auch die naheliegendste Strategie: Einfach besser zu sein als das Land. Sie versuchen allen „Lifestyles“, Lebensentwürfen und sozialen Hintergründen den Platz einzuräumen, den sie suchen. Nicht ganz einfach, wenn die Menschen die unterschiedlichsten Biographien mitbringen, die sich nicht mehr durch konventionelle Wohnbau-Schablonen pressen lassen. Flexible Wohntypologien sollen auf soziale Veränderungen richtig reagieren. Das Modell „Patchwork-Familie“ soll ebenso Platz finden wie der Trend zur Individualisierung. Sich Lebenssituationen anpassen, das können Einfamilienhäuser nicht. Gründerzeithäuser in Wien hingegen schon viel besser, wie Studien beweisen. Und intensives Mischen von Menschen und Generationen soll helfen, die Stadt nicht sozial zersplittern zu lassen.
Der nächste Teil der Serie „Die neue Stadt“ erscheint am 24.9.