Zur Zukunft der Stadt: FußgängerIn zu sein muss wieder alltäglich werden

19.06.2018
Gesellschaft, Trends

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Die wachsenden Metropolen und Agglomerationsräume der globalisierten Welt, in der bereits sechs von zehn ErdenbürgerInnen leben, sind einem ununterbrochenen Wandel unterworfen. Der sozio-ökonomische Organismus Stadt verändert sich tagtäglich, so wie sich auch die konkrete Stadt im Dauerzustand einer Metamorphose befindet.

Obwohl – oberflächlich betrachtet – das Stadtbild wie in Stein gehauen ungerührt dasteht. Ein Trugbild, das einer näheren Betrachtung nicht standhält. Denn schon allein die Infrastruktur der Stadt, wie zum Beispiel die Glasfaserkabel, die den urbanen Organismus wie Nervenstränge durchziehen, beschleunigt das Leben um ein Vielfaches und katapultiert uns in die digitalisierte Welt.

Dieser unsichtbare Eingriff, der die Voraussetzung dafür schuf, dass riesige Datenmengen durch die Metropolen gepumpt werden können, ist mit jener sichtbaren Veränderung vergleichbar, die vor bald einhundert Jahren in New York geschah. 1920 wurde in Manhattan erstmals bei Einbruch der Dunkelheit die permanente Straßenbeleuchtung eingeschaltet. Nichts war mehr wie zuvor.

Das Leben, der Lebensrhythmus der Menschen in der Stadt am East River, wandelte sich grundlegend, weil von da an das Auto New York total erobern konnte. Es schaffte sich Platz. Und drängte die Menschen auf die schmäler werdenden Bürgersteige.

Fünfzig Jahre expandierten die Verkehrsflächen und die Zahl der Automobile. Ein halbes Jahrhundert lang wurde es lauter in der Stadt. Die Schmerzgrenze war erreicht, als die Columbia State University mit einer Untersuchung belegte, dass in 98 Prozent des öffentlichen Raums in Manhattan ein die Gesundheit gefährdendes Lärmniveau erreicht wurde.

 

Experiment zur Verbesserung der Lebensqualität

Vor zehn Jahren entschied der damalige Bürgermeister Michael Bloomberg ein Experiment zu wagen. Auslöser für seine Entscheidung, die Lebensqualität in New York spürbar zu verbessern, war die Prognose, dass bis 2030 mindestens eine Million Menschen nach New York übersiedeln würden.

Bloomberg nannte drei wesentlichen Punkte, mit denen das Ziel die Lebensqualität zu erhöhen, erreicht werden sollte. Erstens müsse die Mobilität in der Stadt signifikant verbessert werden. Zweitens verlangte er nach Konzepten, die den privaten Autoverkehr in der Stadt verringerten und drittens sollte die Nutzung des öffentlichen Raumes überprüft und an die Bedürfnisse der Menschen angepasst werden.

Der dänische Architekt und Stadtplaner Jan Gehl stellte Überlegungen an, wie man die Quadratur des Kreises – in diesem Fall die Mobilität in New York zu erhöhen, die Lebensqualität für FußgängerInnen zu verbessern und gleichzeitig die in der Stadt gefahrenen Autokilometer zu reduzieren – lösen könnte.

 

Die Stadt als Wohnung

Er wählte einen interessanten Ansatz: er betrachtete die Stadt als Wohnung. „Für mich besteht kein Zweifel daran, dass sich der Mensch — geschichtlich gesehen — als gehendes Lebewesen entwickelte. Alles, was das Leben lebenswert macht, geschieht, wenn wir auf den Beinen sind, wenn wir gehen, wenn wir sitzen, in Häusern, in Wohnungen. Die Korridore halten wir nicht für besonders spannend.

Das Leben zu Hause spielt sich im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, in der Küche, im Arbeitszimmer ab. Während wir bei den Städten den Korridoren enorme Aufmerksamkeit schenken, d.h. wie man von A nach B kommt. Die Frage ist jedoch, ob es auch Orte gibt, die es sich zu erreichen lohnt. Es ist auch logisch, dass der Mobilität in der Stadt mehr Bedeutung beigemessen wird, denn Städte erstrecken sich über zu große Entfernungen.“

Verkehrsflüsse wurden gemessen und der Flächenverbrauch der FußgängerInnen und der Kraftfahrzeuge. Auch die Gehgeschwindigkeit, unterschiedliche Gehgeschwindigkeiten in Straßen und auf Plätzen wurden erhoben und die „Bremseffekte“, die Ampeln auf die Gehzeiten von FußgängerInnen bewirkten.

Aus Untersuchungen in Sydney wusste das Team um Jan Gehl, dass etwas mehr als 50% der Wegzeit auf Wartezeiten an Ampeln entfiel. Die Schlussfolgerungen, die Jan Gehl daraus zog, gipfelten im Vorschlag, den Times Square für FußgängerInnen zu reservieren.

Die Fotos, auf denen Menschen zu sehen waren, die mitten am Times Square an Tischen saßen und entspannt miteinander tratschten, gingen um die Welt. Dass zur selben Zeit weit mehr Verkehrsadern der Stadt in fußgängerfreundliche Straßenzüge verwandelt und mehr als 300 km an Fahrradwegen geschaffen wurden, ist weniger bekannt.

 

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Faktum ist, dass die verwirklichte Bloomberg’sche Vision Vorbild für viele Städte – auch in Europa – wurde.

Hier ein weiterer Beitrag von Michael Kerbler über Jan Gehl und die Nutzung des städtischen Raumes durch den Menschen.

 

Der Verkehrsplaner Fritz Kobi hat immer wieder auf die Veränderungen des städtischen Lebens in seiner Schweizer Heimat aufmerksam gemacht. Er hat darauf hingewiesen, dass sich schon allein aufgrund steigender Temperaturen das Leben nicht nur in den eidgenössischen, sondern auch in anderen europäischen Städten bereits begonnen hatte zu verändern.

„Die Stadt der Zukunft weist Lebensqualität auf, weist Außenräume auf, die attraktiv sind. Wir gehen mit dem Klimawandel wahrscheinlich ein wenig in Richtung Mediterranisierung. Die Leute halten sich vermehrt draußen auf. Ein Teil des Lebens findet also wieder im öffentlichen Raum statt.

Das wäre sehr gut auch im Hinblick auf die soziale Sicherheit, dass man sich sicher fühlt im öffentlichen Gebiet. Dies ist wichtig. Wenn ich mich nicht sicher fühle, nehme ich das Auto.“

 

Der Wandel des Stadtbilds

Der Wandel des Stadtbilds, der sich seit der Jahrtausendwende abzeichnet, lässt sich am Bedeutungsverlust des Autos ablesen.

Fritz Kobi: „Die Schere zwischen dem Maßstab Auto und den Wertvorstellungen der Menschen ist auseinandergegangen. Die muss wieder zusammengefügt werden. Es gibt nicht nur den Maßstab Auto in einer Ortschaft und den Maßstab des Ladenbesitzers. Es gibt den Maßstab der FußgängerInnen und den für Velofahrende.

Also es gibt ganz viele Maßstäbe, und man muss eigentlich eine Koexistenz, ein Miteinander erreichen und nicht alles dem Auto opfern.“ Um diese Koexistenz umzusetzen hat der Verkehrsplaner eine ungewöhnliche Maßnahme vorgeschlagen. „Auf dem Zebrastreifen hat bei uns in der Schweiz der Fußgänger Vortritt.

 

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Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass der/die FußgängerIn ohne zu schauen über die Straße geht. Und das ist gefährlich. Die Unfälle auf den Fußgängerstreifen hatten ja auch zugenommen. Bei Tempo 30 braucht man keine Zebrastreifen, da können die Leute überall die Straße queren.

 

Blickkontakt zwischen Autofahrenden und FußgängerInnen

Aber dann nehmen sie wieder Blickkontakt auf! Autofahrende und FußgängerInnen schauen einander an, bevor die Querung stattfindet. Sie kommunizieren miteinander. Die Autofahrenden signalisieren durch ein wenig weg vom Gas oder durch Handzeichen, du kannst rüber. Die Verkehrssicherheit wird verbessert, was dann auch bewiesen werden konnte.“

Fritz Kobi erwartet weiter sinkende Geschwindigkeiten des motorisierten Verkehrs und sieht als Folge eine Umstellung von Lebensgewohnheiten. „Es wird so sein, dass man wieder zu Fuß oder mit dem Velo den täglichen Einkauf machen kann. Dies wird die Stadt auszeichnen.

Was wir möchten, sind kürzere Distanzen. Man sieht, dass dichtere Siedlungen weniger Verkehrsleistung, also Personen-Kilometer mit dem Auto im Jahr, erzeugen. Wenn wir mit Straßenumgestaltungen das Verdichten im Zentrum ermöglichen, wenn wir dort funktionierende, wirtschaftlich und verkehrlich funktionierende Zentren haben, dann vermeiden wir Verkehr.“

 

Zu Fuß gehen fördert zwischenmenschliche Beziehungen

Für den langjährigen Professor für die Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich, Vittorio M. Lampugnani, ist die Idee, eine Stadt auf der Grundlage des Automobilverkehrs zu bauen, obsolet. Warum? „Weil wir längst wissen, dass städtisches Leben, also auch zwischenmenschliche Beziehungen – auch wenn es nur schnelle Blicke oder ein paar eilige Worte sind – nur geschehen, wenn man zu Fuß geht.

Ich glaube, dass die Stadt der Zukunft nur die Fußgängerstadt ist. Jeder, der eine autonome Mobilität haben will, braucht ein Auto. Das werden wir uns weder ökonomisch noch ökologisch leisten können, ganz abgesehen davon, dass irgendwann einmal unser Erdöl zu Ende ist.“

Die Stadt müsse dem Fußgänger Vorrang einräumen. „Die Stadt muss zunächst einmal für die FußgängerInnen entworfen werden, und dann muss man schauen, dass auch die Autos einen Raum finden. Womit ich nie meine, dass die Autos ganz aus der Stadt verbannt zu werden brauchen.“

 

Orte der Begegnung schaffen

Faktum ist, dass mit dem Ende der funktionalen Trennung von Arbeit, Wohnen und Freizeit das Stadtviertel, das Quartier oder „Grätzel“ aufgewertet wurden. Das Leben zwischen den Häusern, im öffentlichen Raum also, hat an Bedeutung gewonnen. Orte der Begegnung, ob ein Platz, ein Park oder ein Boulevard sind attraktiv.

Wenn an solchen Orten dann auch noch Schanigärten, Bäume, in deren Schatten man verweilen kann oder Bänke stehen, ohne gleich konsumieren zu müssen, dann werden sie recht bald zu Treffpunkten. Denn die Stadt ist nicht nur Erholungsraum, sondern auch Bühne. Cafés, Wirtshäuser, Plätze und Straßen sind Bühnen des Alltags, auf denen unser Leben spielt. Die Aneignung der Stadt durch ihre BürgerInnen hat längst begonnen.

 

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Im Frühsommer gibt es sie wieder, ob in Hamburg, Paris, Mailand, Wien oder Salzburg: Menschen, die flanieren. Die scheinbar ziellos ihre Stadt erkunden, absichtslos. Der Flaneur kultiviert das durch das Gehen distanzierte Betrachten und Beobachten. Das gelingt besonders in Quartieren, die möglichst verkehrsberuhigt sind. Dann nämlich existiert die Chance auf dieser urbanen Bühne gesehen und wahrgenommen zu werden.

Vielleicht plädieren nicht zuletzt deshalb – direkt oder indirekt – Jan Gehl, Fritz Kobi oder Vittorio Lampugnani dafür, nicht primär in Kategorien der Stadtplanung oder des Wohnbaus zu denken, sondern zuerst an das Leben der Menschen in den Städten. Und an deren Bedürfnisse und ihr Verhalten, mit dem Ziel beides zu verstehen, damit die daraus gewonnenen Erkenntnisse in die Umgestaltung der Stadt einfließen, die die Lebensqualität im urbanen Raum verbessern.

FußgängerIn zu sein muss wieder ein ganz normaler Bestandteil des Alltags werden. Was sich – das sei noch hinzugefügt – erwiesenermaßen nicht nur auf die Psyche vorteilhaft auswirkt, sondern auch der körperlichen Gesundheit zuträglich ist.

 

©kombinat3, Michael Kerbler (Maria Alm, 10. Juni 2018)

 

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Michael Kerbler

Publizist ORF Chefredakteur

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