Kultur anders denken – das neue Normal

26.10.2021
Kultur

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Corona hat seit dem ersten Lock-Down im März 2019 im gesellschaftlichen und kulturellen Leben tiefe Spuren hinterlassen. Kultur anders denken: Von einem Tag auf den anderen war alles anders, Altbewährtes konnte nicht mehr gelebt, neue Ideen mussten erdacht und schnellstmöglich umgesetzt werden. Die Finanzierung von Literatur, Theater, Konzerten, kurzum des gesamten Kulturbetriebs, wurde zu einem Hochseilakt ohne Netz.

 

„Corona hat das Hamsterrad des Lebens gebremst, trotzdem sind wir rastloser geworden,“ konstatiert der Soziologe Hartmut Rosa. Damit beschreibt er unseren neuen Alltag mit Online-Meetings: „Ich bin ständig unterwegs, von einem Ort zum anderen, zugleich physisch komplett stillgelegt.“

Es geht um die Qualität von Begegnungen und nicht deren Quantität, um emotional, psychosozial und intellektuell ausgeglichen zu sein. Kunst und Kultur sind an sich ein geeignetes Mittel, um diese Balance zu schaffen – so haben wir es zumindest bisher gelebt.

 

Kultur anders denken
„Who is afraid of the new normal? – Kunstinstallation Gegnerhaus Abtsdorf (c) Medienfrau Doris Schulz

 

Kochen auf Sparflamme

Ein prognostizierter Kulturhunger hat sich in Zeiten des Lockdowns breit gemacht und Spielstätten haben voller Erwartung ihre Säle wieder geöffnet. Das Ergebnis war doch ernüchternd, in vielen Fällen erschütternd. Mit allen gesetzlichen Vorkehrungsmaßnahmen schaffen Kulturinstitutionen eine Auslastung von 50 bis 70 Prozent. Aber nicht überall, denn in bei kleineren Häusern wurde die Sehnsucht nach dem unmittelbaren Kulturgenuss noch stärker gebremst.

Bedingt durch die Umstände, dass seit eineinhalb Jahren nur auf Sparflamme gekocht werden kann und kein Mensch weiß, wie es heuer im Winter aussehen wird, besteht ein großer Bedarf an Kultur. Das Problem ist, dass Menschen momentan große Angst haben, in größeren Gruppen zusammenzukommen, was zu einer paradoxen Situation führt.

Auf der einen Seite sehnen sich die Menschen nach kultureller Nahrung wie Konzerte, Theateraufführungen, Lesungen oder Ausstellungen. Andererseits geht bei einigen die Angst um, sich mit Corona anzustecken oder mit einer Person Kontakt zu haben, die infiziert ist und man das Risiko eingeht, in Quarantäne zu müssen.

Außerdem entstand durch die langfristige Absenz naher persönlicher Kontakte ein Vakuum des Empfindens. So menschlich Nahekommen ist, so interruptiv und störend kann es im Vergleich zu Netzaktivitäten sein. Das world wide web ist viel „sauberer“ – die Gefahren einer körperlosen Gesellschaft jedoch unabsehbar. Der Soziologe Randall Collins spricht hier von einer „Art Lethargie und Erschöpfung“, die neu ist und schwer überwindbar scheint.

Trotzdem müssen Kulturveranstalter ins Netz ausweichen, um präsent zu sein – mit Live-Übertragungen, Podcasts, Filmen, virtuellen Rundgängen durch Galerien, Museen und Bühnen. Natürlich ist es ganz schwer, sich im direkten Vergleich mit großen Orchestern und Ensembles im Netz zu messen, aber auf Sparflamme zu kochen kann für die kulturellen Nahversorger auch fatal sein.

 

Kultur anders denken
Regionaler Kulturversorger Kornspeicher mit Intendant Peter Kowatsch (c) Medienfrau Doris Schulz

 

Angstfreier Genuss

Teil des Dilemmas ist, dass es sich viele Kulturbegeisterte in den letzten eineinhalb Jahren zuhause auf der Couch gemütlich gemacht haben. Sie genießen diverse Angebote von Streaming-Kanälen und sind kaum noch durch gesellschaftliche Ereignisse zu erreichen.

Wie kann man also kulturelle Events in Zeiten der Pandemie attraktiv und lukrativ gestalten? Es muss doch möglich sein, große Veranstaltungen durchzuziehen, bei denen Menschen angstfrei genießen können. Regeln müssen eingehalten und kontrolliert und der normale gesellschaftliche Umgang inklusive Speis´, Trank und Pausengeplauder wieder Teil des Miteinanders werden.

Zu diesem Thema erhebt derzeit das dreijährige Forschungsprojekt Creative-Europe-Projekt ASSET (Audience Segmentation System in European Theaters), was sich das Publikum in Zukunft erwartet. Vier Wiener Theater haben sich mit den insgesamt 20 europäischen Häusern an der mehrstufigen Publikumsbefragung beteiligt.

Von Oktober 2018 bis April 2021 wurden trotz Corona 10.000 ausgefüllte Fragebögen zur Auswertung gebracht. Die Befragung bezog sich auf Erwartungshaltungen, Erfahrungen, Charakteristika und kulturelle Vorlieben der Besucher, um daraus Schlüsse für künftige Programme zu ziehen.

 

Neue Kanäle

Große Museen, Theater und Opernhäuser, die sich auf öffentliche Finanzierung verlassen können, haben die Krise genutzt, um sich zu wandeln und neue Produkte zu entwickeln. Viele neue Online-Formate sind entstanden. Theaterintendant und Regisseur Milo Rau hat zum Beispiel das belgische Schauspielhaus NTGent auf den Prüfstand gestellt und die Zeit genutzt, um Bücher und Filme zu produzieren.

„Für unseren Film „Das Neue Evangelium“ haben wir mit mehr als 100 Kinos in Deutschland und Österreich zusammengearbeitet. Die Zuschauer konnten beim Kauf der Online-Tickets auswählen, welche Kinos an den Einnahmen beteiligt werden. Diese neuen Distributionskanäle wollen wir auch nach der Pandemie nutzen“ erklärt Rau. Zusätzlich wurden Proben und Produktionen via ZOOM übertragen, was starken Wiederhall beim Publikum fand.

Ebenso haben die „Montforter Zwischentöne“ ihre Bühnen-Formate während des Lockdowns digital weitergeführt. Philosophen, die noch im Februar 2019 im Alten Hallenbad live on stage diskutierten, konnten ihre Erkenntnisse aus der Pandemie-Zeit per Stream weiterhin austauschen.

 

Kultur anders denken
Montforter Zwischentöne – Youtube Screenshot der Live Performance

 

https://www.youtube.com/watch?v=H-gHizWGQOw&list=UUGtloW_3-M5Cgkbphl-vzrw

 

Kunst an der frischen Luft

Immer stärker in den Fokus sind Outdoor-Veranstaltungen gerückt, die umgestellt oder neu entwickelt wurden – je nach Jahreszeit und Wettertauglichkeit. Die „Donnerszenen“ in Klagenfurt haben seit dem Sommer 2020 jeden Donnerstag zwischen 16 und 22 Uhr bei freiem Eintritt in den mehr als 23 Innenhöfen ein neues Format für kleine Ensembles und Duos entwickelt.

Hier reift ein Treffpunkt für Einheimische und Gäste heran, die einen genussvollen Abend erleben und in einen künstlerischen Dialog eintreten wollen. Dieses Konzept wird in der heurigen Adventzeit fortgesetzt, die „Donnerszenen“ laden zu gelebter Kunst unterm Sternenhimmel ein.

 

Kultur anders denken
Donnerszenen Ossiacher Hof (c) Sarina Dobernig

 

Ausstellungen und Präsentationen sind als kulturelles Outdoor-Angebot an sich gut umzusetzen. Die „Welser Kulturmeile“ zeigt zum achten Mal en Suite auf langen Plakatwänden Fotografien und Kunst im öffentlichen Raum. Die Künstler befassen sich mit einem speziellen Bereich, der aktuelle Themen wie Klimaschutz und Pandemie aufgreift.

„Mundpropaganda, persönliches Networking und aktive Medienarbeit samt großem Eröffnungsfest haben der Kulturmeile einen guten Ruf geschaffen“, zeigt sich Mastermind Renate Pyrker hoch zufrieden.

 

Kulturmeile Wels (c) Medienfrau Doris Schulz

 

New Religion – Another Perspective

Eine Ausstellung auf Outdoor-Wanderschaft ist das internationale Foto- und Filmprojekt „New Religion – Another Perspective“, das bis 8. Dezember auf der Promenade in Steyr gezeigt wird. Auf wirkmächtigen Fototableaus setzt sich die Konzeptkünstlerin Tetyana Aleks mit der modernen Konsumwelt und ihren negativen Folgen auseinander. Auf dem Handy können Bilder mittels QR-Code verändert werden, ein Augmented Reality-Filter überlagert das reale Bild mit virtuellen und computergenerierten Effekten.

 

Kultur anders denken
New Religion – Another Perspektive (c) Medienfrau Doris Schulz

 

Feldkirch geht mit dem „Festival für Kunst mit Licht“ in Vorarlberg seit Oktober 2018 neue Wege. Alle zwei Jahre werden Künstler eingeladen, die Stadt in vielen Formen und Facetten zu bespielen. Die historische Altstadt ist dabei spektakuläre Kulisse, Plätze und Gassen werden zum Ausgangspunkt und Impulsgeber für den inhaltlichen und gestalterischen Rahmen des Lichtkunstfestivals.

 

Lichtstadt Feldkirch 2021 OchoReSotto_Arkestra of Light (c) OchoReSotto, Foto Günter Richard Wett

 

Kritik und Hoffnung

Kulturschaffende versuchen mit kreativen Ideen aus der Krise zu kommen und neues Terrain zu erobern. Manch einer, wie der Medienkünstler Peter Waibl, sieht die Situation durchaus kritisch. „Die Schließung der Museen in der Pandemie ist das Beste, was der Kunst passieren konnte.

Museumsdirektoren, die den Erfolg ihrer Ausstellungen an der Masse der Besucher messen, sind eine Fehlentwicklung. In den Event-Ausstellungen feiert die Masse der Besucher sich selbst, die ausgestellt Kunst ist dafür nur der Vorwand“, wettert der Pionier der Medienkunst.

Diese Kritik trifft vor allem auf große Museen zu, denn kleine Galerien stellen Künstler aus, die nicht so große Namen haben, aber ähnliche Qualität beweisen. Es wäre hoch an der Zeit, das Förderwesen zu reformieren und öffentliche Gelder als Anschubfinanzierung zu verwenden.

Vielleicht ist diese Pandemie ein „Gamechanger“ und bedingt ein zwangsweises Umdenken. „Krisen sind immer eine Chance für die Zukunft. Es besteht die Möglichkeit aus alten Wegen auszubrechen und neue Visionen zu entwerfen“, sieht Soziologe Hartmut Rosa durchaus erfreuliche Perspektiven. Es geht um einen Spurwechsel und den Weg in die Zukunft – ohne Angst und Scheu.

Die tiefen Spuren der letzten 18 Monate kann man nicht leugnen. Doch wie oben angeführt gibt es individuelle und innovative Wege in eine positive Zukunft der Kunst. Es wäre nicht das erste Mal, dass Kreativität und ein „Denken um die Ecke“ zum Erfolg führen – gerade in Zeiten von Viren und Verboten.

Titelbild: Donnerszenen Bamberger Hof (c) Sarina Dobernig

 

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Edgar Eller

Selbständiger Unternehmensberater und Hochschullehrer.

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