Die Vergreisung Europas – Worauf die Stadtplanung heute schon achten muss

25.07.2017
Architektur, Gesellschaft

Kopenhagen_www.pixabay.com

Ein Gespräch von Michael Kerbler mit dem dänischen Stadtplaner Jan Gehl zum Thema „Die Vergreisung Europas“:

Das Interesse des dänischen Architekten und Stadtplaners Jan Gehl hat schon während des Studiums dem Menschen und seiner Entwicklungsgeschichte gegolten. Unter diesem Aspekt habe er Städte auf der ganzen Welt auf ihre Gemeinsamkeiten hin untersucht.

 

„Es gibt zwei Elemente, die die gesamte Geschichte der Städte durchziehen: Straßen und Plätze. Die Straße ist ein Raum für die Fortbewegung, wofür die Füße die Grundlage bilden. Die Geschichte der Straße begann mit einem Pfad. Dann kamen Bauern, die am Rand des Pfades ihre Ernte anboten. Später errichteten sie eine kleine Hütte und im weiteren Verlauf ein Steinhaus, und so entstand die Straße. Die Straße dient also der Fortbewegung, und diese Funktion symbolisiert sie auch.

Die zweite Art von Raum in allen Städten ist weltweit der Platz. Der Platz beruht auf dem Auge und auf dem, was man mit dem Auge wahrnehmen kann. Für Aktivitäten, die einen gewissen Raum erforderten, wie beispielsweise Märkte, Prozessionen oder Militärparaden, schufen die Menschen Plätze, die vorzugsweise so groß waren, dass man sie von einem Ende zum anderen überblicken konnte.

Beispiele dafür sind einige der schönsten Plätze in Europa, wie die Piazza del Campo in Siena.Wenn man diesen Platz betritt, kann man den gesamten Raum und seine Form mit allen Einzelheiten erfassen.“

 

Piazza del Campo Siena (Foto www.pixabay.com)
Piazza del Campo Siena (Foto www.pixabay.com)

 

Die Stadt gehört den Fußgängern

Jan Gehl ist ein strikter Befürworter, dass die Stadt zuerst den Fußgängern gehört. Der ehemalige Bürgermeister von Bogota, Enrique Peñalosa, mit dem Gehl zusammengearbeitet hat, antwortete einmal auf die Frage nach den Kriterien für eine „glückliche Stadt“: „Wir müssen gehen, so wie Vögel fliegen müssen. Wir müssen mit anderen Menschen zusammen sein, wir brauchen Schönes. Außerdem brauchen wir den Kontakt mit der Natur, und vor allem dürfen wir nicht ausgegrenzt sein. Wir brauchen das Gefühl einer gewissen Gleichwertigkeit.“

 

Jan Gehl fasst die Peñalosa-Formel in einem knappen Satz zusammen. Die Stadt der Zukunft ist die demokratische Stadt. „Und damit verknüpfe ich meine Vision einer guten Stadt, die aus gut funktionierenden Vierteln, in denen man überallhin zu Fuß gelangen kann, besteht. Das bedingt, dass sie nicht beliebig groß sein können. Interessanterweise sind die Stadtzentren überall auf der Welt höchstens 1 km x 1 km groß. Denn diese Distanz kann man zu Fuß bewältigen. Wenn wir in Zukunft mobil sein wollen, ohne völlig vom Auto abhängig zu sein, dann ist das zu beachten.“

Und der Städteplaner, dem es gelungen ist, den New Yorker Times-Square zur autofreien Begegnungszone zu machen, ergänzt: „Das Zeitalter des motorisierten Individualverkehrs geht dem Ende zu. In den nächsten 30 Jahren wird seine Bedeutung immer mehr abnehmen. Und das Auto wird von sehr intelligenten, modernen Formen der Mobilität abgelöst werden.“

Faktum ist, in Kopenhagen hat es etwa 45 oder 50 Jahre gedauert, bis der heutige Zustand erreicht wurde. Fußgänger und Fahrrad plus öffentliche Verkehrsmittel sind die dominierenden Fortbewegungsformen.

 

Wo setzt man an, wenn man eine Stadt in eine Stadt für Fußgänger verwandeln möchte?

Zuerst rückt Jan Gehl das Bild von Kopenhagen ein wenig zurecht. „In Wirklichkeit gibt es heute mehr Autos in Kopenhagen als jemals zuvor in den letzten 50 Jahren. Ihre Anzahl ist zwar sehr langsam, aber doch gestiegen. In Kopenhagen wurden die Systeme für Fußgänger, für das öffentliche Leben und das Radfahren nach und nach besser ausgestaltet. Sie funktionieren auch sehr gut. Es wurde Asphalt eingesetzt, um Radfahrer glücklicher zu machen und um Gehsteige zu verbreitern.

Der Platz für fahrende und parkende Autos wurde allmählich verringert, aber es gibt nach wie vor Autos. Sie wurden nicht verbannt. Aber es wurden Beschränkungen eingeführt, um sicherzustellen, dass sie langsamer fahren und sie an den wichtigeren Plätzen nicht zu zahlreich sind.“ Sein Resümee: in Kopenhagen gibt es kein „Entweder-oder“.

Das Nebeneinander sei möglich, wenn die Stadtplanung sich um die Menschen, einschließlich der Radfahrer, kümmert und dann festlegt, wieviel Platz für den motorisierten Verkehr übrigbleiben muss. Er plädiert für eigene Busspuren, damit die Busse nicht im Stau stecken bleiben. „Dann kann die Koexistenz funktionieren. Ich bin kein Fundamentalist, sondern eher ein Humanist.“

 

Beispiel: Umgestaltung des Times Square

Die Umgestaltung des Times Square in New York unter Bürgermeister Michael Bloomberg stellt ein Markstein in der Tätigkeit des Teams um Jan Gehl dar. Am Anfang stand die eingehende Analyse des Status Quo, erinnert er sich. „Die Gehsteige waren überfüllt, und es gab eine breite, mehrspurige Straße. In Zählungen stellten wir fest, dass 90 % aller Menschen, die zum Broadway kamen, auf nur 10 % der vorhandenen Fläche im Gedränge auf den Gehsteigen zu Fuß unterwegs waren. Während jene 10 %, die in Autos fuhren, 90 % des Platzes für sich hatten.

Wir regten also an, dass man den Menschen im Gedränge etwas mehr Platz geben sollte.“ Die Lösung klingt ein wenig nach der Quadratur des Kreises. Da sowohl der Broadway als auch die querende 7th Avenue Einbahnen in dieselbe Richtung sind, kam man zum Schluss, dass der Verkehr reibungsloser durch die Stadt fließen würde, wenn der Broadway geschlossen wird.

„Ich war darüber sehr glücklich, denn wir wollten ja ganz genau all den Platz am Broadway für die vielen Menschen. Auch damit Tische und Sessel aufgestellt werden und man das Leben genießen konnte. Zunächst war es nur als Experiment gedacht. Aber nach einem halben Jahr gab der Bürgermeister bekannt, dass es kein Zurück mehr gibt.“

 

Die Vergreisung Europas: Times Square New York (Foto www.pixabay.com)
Times Square New York (Foto www.pixabay.com)

 

Fußgängerzonen sind gut für den Umsatz

Bedenken mancher Geschäftsleute, die einen Umsatzeinbruch befürchteten, lösten sich in Wohlgefallen auf. Alle Geschäfte in den Bereichen, die menschenfreundlicher gestaltet sind, florierten. Ihr Umsatz stieg, der Wert der Geschäfte nahm zu, ebenso die Anzahl der Kunden und der Mitarbeiter.

Jan Gehl: „In den 45 oder 50 Jahren, in denen ich mit Städten zusammengearbeitet habe, um sie menschenfreundlicher zu gestalten, habe ich, wenn es um die Schließung einer Straße oder die Verlangsamung des Verkehrs und Verbesserungen für die Menschen ging, in jeder einzelnen Stadt zu hören bekommen: „Das geht hier niemals. Sie müssen einsehen, dass es sich hier um eine ganz besondere Straße oder ein ganz besonderes Gebiet handelt. Sie können Gift darauf nehmen, dass es die kapitalistische Wirtschaft in all den Städten nie zugelassen hätte, dass sich die Fußgängerzonen überall ausbreiten, wenn sie nicht gut fürs Geschäft wären.“

 

Die Vergreisung Europas: Ein Blick in die Zukunft

Im Jahr 2050 werden auf der Erde 2,6 Milliarden Menschen mehr leben als heute. Der Anteil der über 65-Jährigen an der Weltbevölkerung wird auf 15,6 Prozent steigen. Gegenüber 2010, als der Wert 7,7 Prozent betrug, würde dies einen Anstieg um mehr als das Doppelte innerhalb von nur 40 Jahren bedeuten. Es wird dann mehr Menschen über 60 Jahren als Kinder unter 15 Jahren geben.

Das hat in Europa, dessen Bevölkerung auf 726 Millionen Einwohner schrumpfen wird, enorme Auswirkungen auf die Konzeption der Städte. Die europäische Stadtplanung heute muss schon jetzt diese Vergreisung der Städte einkalkulieren. Unter Bezug auf die 50 Jahre, die es brauchte, um das Verkehrssystem in Kopenhagen zu verändern, stellt sich die Frage: was ist jetzt schon zu tun, damit die heute Dreißigjährigen 2050 als 60-Jährige eine Stadt vorfinden, die für Jung und Alt gleichermaßen gut geeignet ist?

 

Gestaltung einer menschenfreundlichen Stadt

Für Jan Gehl stellt diese Entwicklung, wie er sagt, kein Problem dar, sondern sei eigentlich eine Freude. „Wir sollten das tun, was der menschlichen Natur entspricht. Nämlich ein gutes Umfeld für die Menschen schaffen, in dem sie ihre Fähigkeit zu gehen, zu sehen und zu hören nutzen und sich begegnen können.

 

Das alles konnte man in den alten Städten, aber in vielen neuen Städten ist das nicht mehr möglich. Deshalb meine ich, dass Viertel in einem menschlichen Maßstab, in denen man gut zu Fuß gehen kann, gut für alle Generationen sein werden — auch für die mittlere Generation, die für einige Zeit die Stadtplanung dominiert und alles bestimmt hat.

Ich habe bei einer Reise nach Vietnam in der dänischen Botschaft eine Dame aus Hanoi kennengelernt, die gerade aus Kopenhagen zurückgekommen ist. Sie fragte mich, ob wir in Kopenhagen einen Babyboom hätten. „Einen Babyboom?“ erwiderte ich. „Im Gegenteil, wir haben so wenig Babys, dass es in 200 Jahren keine Dänen mehr geben wird.“ Aber ich kann verstehen, weshalb sie diesen Eindruck hatte. Denn überall in der Stadt sieht man Kinder in Kinderwägen, in Kindersitzen auf Fahrrädern, in Fahrradanhängern, auf eigenen Fahrrädern, zu Fuß auf dem Schulweg…

In ganz Kopenhagen trifft man viele Kinder, während man in Vietnam keine Kinder sieht. Da realisierte ich, dass man in Kopenhagen so viele Kinder sieht, weil wir die Stadt so gestaltet haben, dass die Eltern nicht zögern, mit ihren Kindern in der Stadt rauszugehen. Für mich ist das eindeutig ein Zeichen der Qualität. Achten Sie in einer Stadt immer darauf, ob viele ältere Leute, viele kleine Kinder und auch Jugendliche zu sehen sind. Das ist ein Indikator für die Qualität einer Stadt.“

 

Eine Stadt für alle Altersgruppen

Der dänische Architekt verweist abschließend auf eine kanadische Initiative, die Eight Eighty heißt und von Gil Peñalosa, dem Bruder von Enrique Peñalosa, gegründet wurde. Die Idee dahinter sei, dass man sich bei einer Stadt immer fragen sollte, ob es sowohl den Achtjährigen als auch den Achtzigjährigen gut geht. Und Jan Gehl betont nachdrücklich: „Wenn man die Frage für beide Gruppen bejahen kann, dann ist die Stadt auch für alle anderen Altersgruppen in Ordnung.“

 

Michael-Kerbler

Michael Kerbler

Publizist ORF Chefredakteur

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