Baugruppen: Wir planen unser Wohnhaus selbst!

23.01.2017
Wohnen

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Wenn eine Familie ein Einfamilienhaus baut, läuft alles nach Plan. Nach ihrem eigenen. Doch was, wenn mehrere Familien ihr Wohnhaus gemeinsam nach ihren Vorstellungen errichten wollen? Dann kommen Baugruppen ins Spiel. Wie das Modell Baugruppen funktioniert, haben wir uns am Beispiel des Projekts „Gleis 21“ in Wien angesehen und waren von den Vorteilen begeistert.

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Planungs-Picknick des Gleis 21-Teams am Grundstück beim Helmut Zilk-Park in Wien nahe des Hauptbahnhofes. © Gleis 21

Wenn Michael Kerbler von seiner Baugruppe „Gleis 21“ am Hauptbahnhof erzählt, leuchten seine Augen. „Im März steht der Spatenstich bevor. Im Sommer 2018 werden die Wohnungen für über 40 Erwachsene und 17 Kinder fertig sein“, so der renommierte ORF-Journalist, für den sein neues Wohnprojekt eine Herzensangelegenheit ist. „Es ist das gemeinschaftliche und Generationen übergreifende Wohnen in seiner besten Form. Die Anonymität der Großstadt gehört durch die vielen Gemeinschaftsflächen und die gelebte Nachbarschaftshilfe der Vergangenheit an.“

Das Durchschnittsalter der künftigen BewohnerInnen liege bei etwa 35 Jahren, doch so genau könne man das nicht vorhersagen. Schließlich sind schon jetzt mehrere Babies im Anmarsch. Das Gesamtalter aller BewohnerInnen deckt die Bandbreite 0 bis 70 Jahre ab. „Für mich ist das Projekt meine private Altersvorsorge, die Spaß macht“, freut sich Kerbler. Er berichtet von einer ähnlichen Baugruppe im zweiten Wiener Gemeindebezirk, in dem sich SeniorInnen für die Inanspruchnahme eines privaten Pflegedienstes zusammengeschlossen haben.

 

Baugruppen: gemeinsam entscheiden

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Die künftigen BewohnerInnen haben sich für die Planung in sieben Arbeitsgruppen organisiert. © Gleis 21

Die ersten Treffen für das neue Projekt starteten zum Jahresende 2014. Unter der Projektleitung eines Architekten wurde das Kernteam formiert, in dem Aufgaben und Zuständigkeiten im Prozess der Planung und Umsetzung des „Gleis 21“ festgelegt und in unterschiedliche Arbeitsgruppen eingeteilt wurden. Diese teilen sich in sieben Teams, nämlich in die AGs Finanzen & Recht, Kommunikation, Organisation, Gemeinschaft, Freiraum, Kooperation und Architektur. Entsprechend der persönlichen Qualifikation und Erfahrung konnte jeder sein Wissen und seine Stärken gezielt einbringen.

Während die Arbeitsgemeinschaft als Verein organisiert ist, unterstützt die soziokratische Arbeitsweise die Realisierung einer gemeinsam definierten Vision durch Betonung der Gleichwertigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Gruppenmitglieder. (Mehr Informationen und Hintergründe zu Prinzipien und Werkzeugen der Soziokratie finden Sie unter http://www.soziokratie.at/ueber-soziokratie/). Wichtige Entscheidungen, wie etwa die Größen der Gemeinschaftsflächen, die von einer Sauna über Spielplätze bis hin zu einer Gemeinschaftsküche und einem Gymnastikraum reichen, werden im Kollektiv getroffen. Kerbler: „In regelmäßigen Treffen ging der Prozess in unserer Gruppe relativ schnell voran.“ Im Erdgeschoss werden unter anderem das Restaurant Gaumenfreundinnen, ein Stadtkino, eine Musikschule und zwei Hörfunkstudios angesiedelt sein.

 

Flex-Appartments und ein Trakt für Flüchtlinge

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Solidarisch Wohnen: Das Gleis 21 soll ein sozialer und kultureller Treffpunkt für das Grätzel werden. © einszueins architektur

Neben den individuellen Wohnungen, die zwischen 50 und 115 m2 umfassen, gibt es auch vier flexible Kleinappartements. Die BewohnerInnen können diese bei Bedarf als Gästezimmer, als Büro oder als Erweiterungszimmer für die vorhandene Wohnung nutzen. „Flexibilität ist ein wesentlicher Teil des Konzepts“, sagt Kerbler. „Wir richten die Wohnungen so aus, dass sie nach den persönlichen Lebensphasen und individuellen Lebensumständen auch angepasst werden können.“ Neben den umfangreichen Gemeinschaftsräumlichkeiten ist ein eigener Trakt bereits für Flüchtlingswohnungen vorgesehen. Insbesondere unbegleitete Minderjährige werden dort bis zur Volljährigkeit wohnen und von Diakonie und ELQUE betreut. Für die Integration und für den raschen Erwerb der deutschen Sprache erhoffe man sich hier gute Erfolge.

 

Was kostet die Baugruppe den BewohnerInnen?

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Es entstehen 28 Wohneinheiten in der Größe von 50 bis 115 m2. © einszueins architektur

Voraussetzung, um als Privatperson an so einer Baugruppe teilnehmen zu können, ist mitunter eine gewisse Eigenkapitalquote, da die Wohnungen rechtlich wie Heim-Appartments relativ günstig vermietet werden, die BewohnerInnen den Eigenkapitalanteil für die Projektfinanzierung aber im Kollektiv aufbringen. Der Eigenmittelanteil bei Gleis 21 ist leistbar: So wird je nach Einstiegszeitpunkt pro Person ein Einmalerlag von EUR 3.000 bis 6.000 eingehoben sowie ein Beitrag zur Ausstattung der Gemeinschaftsräume, der sich auf EUR 3.000 pro Person beläuft. Wer auszieht, bekommt seinen Anteil unter Berücksichtigung relevanter Abzüge – etwa für die Abnutzung der Wohnung – zurück. „Grundsätzlich rechnen wir aber mit einer beständigen Gemeinschaft an Mietern“, sagt Kerbler. „Da wir das Zusammenleben in der Gemeinschaft aktiv praktizieren, ist die soziale Komponente der BewohnerInnen wichtig.“
Als monatliches Nutzungsentgelt sind voraussichtlich EUR 9,80/m2 zu entrichten.

Da Baugruppen derzeit noch ausschließlich als Verein organisiert sind und die Wohnungen als Heim-Wohnungen gebaut werden, fällt die Stellplatzverpflichtung weg, die im Wohnbau die Baukosten markant in die Höhe treibt. Statt in Parkplätze wird bei Baugruppen also in Gemeinschaftsflächen investiert.
Der Zusammenhalt in der Wohn-Community reicht bis zur finanziellen Unterstützung in Härtefällen: So hat man im „Gleis 21“ einen eigenen Fonds für den Fall geschaffen, dass eine Familie einmal Geldprobleme hat. „Arbeitslosigkeit oder längere Krankheit bei Selbstständigen kann schließlich jeden einmal treffen“, so Kerbler. Diese Rücklage wird von allen BewohnerInnen zusammen in monatlichen Beträgen angespart.

 

Grundstückssuche: Unterstützung aus der Politik

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Das architektonische und inhaltliche Konzept des Gleis 21 wurde von den BewohnerInnen selbst entwickelt. © einszueins architektur

Der Baugruppen-Experte Robert Temel, Vorstand der Initiative für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen, sieht die größte Herausforderung in der Grundstückssuche. „Dabei gibt es noch eine Reihe von anderen Dingen wie etwa das Funktionieren der Wohnbauförderung oder wie die Gruppe entstehen kann“, so der Experte. Fakt ist: Am freien Grundstücksmarkt verlieren Baugruppen, weil ihre Handlungsmöglichkeiten aufgrund der aufwendigen Finanzierungsabwicklung begrenzt sind. „Daher ist es notwendig, dass solche Projekte von politischer Seite unterstützt werden.“

In vielen Städten wie etwa in Zürich oder in Berlin wird Baugruppen ein bevorzugter Zugang zu einem Grundstück eingeräumt. In Wien werden in Stadterweitungsgebieten eigene Grundstücke für Baugruppen ausgewiesen. „Die einzelnen Baugruppen können sich dann mit ihrem Konzept für das Grundstück bewerben“, so Temel. Die Grundstückspreise richten sich dann nach den Preisen des geförderten Wohnbaus.
Während die derzeitigen Projekte nicht genossenschaftlich organisiert sind, sieht Temel Genossenschaften als richtige Rechtsform für Baugruppen an. Allerdings gebe es in Österreich seit Langem keine Neugründungen mehr, darum hat der Architekt nun selbst eine Genossenschaft gegründet, die ausschließlich Baugruppenprojekte umsetzt.

 

Sie interessieren sich für Baugruppenprojekte in Ihrer Stadt/Gemeinde? Die Initiative für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen gibt Ihnen Auskunft.

 

Fazit Baugruppen:

Baugruppen sind ein Wohnmodell der Zukunft, das der Anonymisierung und Vereinsamung der Menschen gerade in Großstädten entgegenwirkt. Gelebte Nachbarschaftshilfe löst einige Probleme, an denen Institutionen scheitern, wie zum Beispiel Kinderbetreuung auch zu untypischen Zeiten, Fahrgemeinschaften, Unterstützung im Alltag auch für ältere Menschen. Im Generationen übergreifenden Wohnen profitieren die Jüngeren von den Älteren und umgekehrt. Der Austausch und die Kommunikation untereinander wird durch die vielen Gemeinschaftsflächen gefördert. Die Kosten für die Errichtung und den Betrieb der solchen wird – ebenso wie die Kosten für das Gesamtprojekt – unter den BewohnerInnen aufgeteilt.  Da die Grundstückssuche aufgrund der aufwendigen gemeinschaftlichen Finanzierungsabwicklung schwierig ist, braucht es Unterstützung von kommunaler und politischer Seite, damit in Zukunft auch in Ihrer Stadt/Gemeinde Baugruppenprojekte umgesetzt werden können.

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